Mein Ich im Gefüge der Zeit

Jung sein in den Jahren 1923 bis 1945 - Erinnerungen

von

Wenn ich gleich nach meiner Geburt hätte sehen, sehen und begreifen können, so hätte ich Augen, Nase, Lachfalten über mir erkannt und einen Mund, der sagt: Schön, dass du da bist. Und ich hätte gefragt: Wo bin ich denn? Ein Straßenname wäre genannt worden. Und wo ist diese Straße? Am Rande einer Großstadt. Mitten im Deutschen Reich. Und was ist heute für ein Tag? Sonntag! Du bist ein Sonntagskind, wäre die verheißungsvolle Antwort gewesen.

Wer ein Stück mit mir durch meine Jugend gehen will, kann in diesem Buch lesen. Alles, wovon ich erzähle, ist vergangen, aber hat das Leben geprägt, mein Leben bis zu dieser Stunde. Auch wenn es heute unwahrscheinlich klingt, dass ich jemals in Leipzig unbefangen mit meinem Teddy durch die Wohnung schlenderte, dass ich als Jungmädel beim Spiel um die Goldene Gans einen Küster spielte, dass ich im Arbeitsdienst Steine vom pommerschen Acker sammelte, dass ich vorschriftsmäßig mit Heil Hitler grüßte und nach Bombennächten stundenlang Fenster entkittete.

Sigrid Lichtenberger lebt seit 1953 in Bielefeld. Geboren ist sie dreißig Jahre zuvor in Leipzig, das sie 1948 verließ. Seit den 1980er Jahren veröffentlichte sie zahlreiche Lyrik- und Prosabände. Die letzten Veröffentlichungen im Pendragon Verlag sind: „Gedichte in unruhigen Zeiten – 1963-2003“; „Der Herbst der Veränderung“ (Erzählungen, 2003); „Begegnungen in Bielefeld“ (Erzählungen, 2004); „Mein Ich im Gefüge der Zeit – Jung sein in den Jahren 1923 bis 1945“ (Erinnerungen, 2005) sowie „Arno – Kaufmann in Leipzig“ (Erzählung, 2006).