Merkbuch

von

„Warum schreibt man Tagebuch? Steffen glaubt: nicht so sehr um Erlebnisse zu bewahren, als um sie loszuwerden. ‚Man prüfe nach Jahr und Tag seinen Vorrat an Erlebnissen wie Bausteine oder Farben, greife das Wesentliche heraus, verbinde das Auseinanderliegende, suche nach Polaritäten und Steigerungen: – Bald entdeckt man dann in sich ein Vermögen, das über lange Lebensstrecken ausgebreitete Zeitgeschehen in einem räumlichen Bilde zu erfassen.‘ Etwas Ähnliches hat der Schreibende so oft suchenden Menschen geraten, die irgendwie ein eigenschöpferisches Erleben in der Dichtung suchten: jeden Tag etwas aufzuzeichnen und nicht nachzulassen, lange Wochen und Monate, und dann zu gegebener Zeit das Geschriebene durchzulesen. Es werde ihnen als Urteil oder Wegweiser dienen. Verhält es sich auch so mit diesem „Merkbuch“? Ja. Es weist uns den Weg in die Seele des Dichters und gibt uns wohl auch ein Urteil. Man wird es nicht wie einen Roman lesen, sondern wie ein Brevier zur Hand nehmen, um dann und wann in guter Stunde einen der Gedanken durchzudenken oder eine der Betrachtungen ganz in sich aufzunehmen. Aber zum Schluß muß unser Gewinn nicht ein Wissen, sondern ein Lieben sein, und aus dem Lieben ein Verstehen, etwa wenn wir mit Steffen an eine Dichterschule denken: ‚Dichter unterscheiden sich von andern Menschen dadurch, daß sie die Erlebnisse, die jedermann, wenn auch auf seine Art, haben könnte, ins Wort bringen. Wer rechte Dichtung auf sich wirken läßt, erwacht in seinem eigenen Gefühl und spürt, wie die Keime, die in ihm selber liegen, zu wachsen beginnen.'“ („Basler Nachrichten“, Nr. 49 vom 12. Dezember 1937)