Moskauer Schriften und Briefe

Textband und Kommentarband

von

Jacob Michael Reinhold Lenz (1751-92) ist als Schriftsteller des Sturm und Drang bekannt. Abgeschlossen schienen Leben und Werk seit seiner von Goethe veranlaßten Ausweisung aus Weimar und spätestens mit seinen ›Anfällen geistiger Verrückung‹ während des Aufenthalts beim Reformpfarrer Oberlin im elsässischen Steintal, verewigt in Büchners Novelle. Über seine letzte Lebensphase in Moskau gab es bislang nur unklare Gerüchte einer manischen Projektemacherei und einer zunehmenden geistigen und körperlichen Krankheit bis hin zu seinem mysteriösen Tod.
Die erstmalige Ausgabe sämtlicher Moskauer Schriften und Briefe macht nun diesen unbekannten letzten, über zehn Jahre währenden Lebens- und Werkabschnitt in Moskau (1781-92) zugänglich. Sichtbar wird ein neuer ›Kosmos‹: Lenz in Moskau zur Zeit der Französischen Revolution, der sich aus einer ungeahnt umfangreichen und vielfältigen literarischen Produktion zusammensetzt. Der Textband umfasst über 520 Seiten und versammelt Briefe, Gedichte, dramatische Fragmente, Prosastücke, gesellschaftspolitische Schriften, die den Hauptanteil ausmachen, Schriften zur Kulturentwicklung und Literatur und viele Zeichnungen.
Der umfangreiche Kommentar (813 S.) greift nicht auf die Trennung zwischen ‚Dichter‘ und ‚Projektemacher‘ zurück, sondern er bietet Zugänge zur spezifischen Situation des Schriftstellers und seines Engagements, das von einem Streben nach einer sozialreformerischen und symbolischen Teilhabe an der Modernisierung des russischen Staates, der Gesellschaft und ihrer Individuen geprägt ist. In einer jeweiligen allgemeinen Einleitung und in einem detaillierten Stellenkommentar situiert der Kommentarband die Texte in ihren historischen Kontexten und macht die Kontinuitäten wie auch die Brüche in Lenz’ Werk deutlich. Eine Projektliste und ein Glossar der zentralen Motive, Symbole und Paradigmen der Moskauer Schriften und Werke, die insgesamt eine Art Mythologie der Großstadt Moskau bilden, runden den Kommentarband ab.
Die wissenschaftlich-kritische Ausgabe der Moskauer Schriften und Briefe ermöglicht der Lenz- und der Sturm-und-Drang-Forschung Einblicke in die bislang weitgehend unbekannte oder ignorierte Weiterentwicklung der literarischen und symbolischen Produktion des Dichters (so z.B. Lenz’ anhaltende Auseinandersetzung mit der Werther-Problematik, seine Weiterentwicklung der sozialkritischen Literatur in der Satire oder seine Arbeit mit der Sprache der Marginalisierten, dem Rotwelschen). Sie bietet ferner Slavisten, Komparatisten und Historikern Material eines spezifischen deutsch-russischen Kulturtransfers (z.B. Lenz’ Arbeit im kulturvermittelnden Novikov-Kreis, sein Austausch mit Freimaurern oder sein Einfluss auf den jungen Dichter und Historiker Karamzin). Für Kulturwissenschaftler und Literatursoziologen leistet sie einen besonderen, da am Rand der europäischen Aufklärung (Russland, Moskau) angesiedelten Beitrag zur Erforschung der Stellung und des Engagements des Schriftstellers im ›aufgeklärten Absolutismus‹ zur Zeit der Französischen Revolution. Schließlich bietet sie für alle Leser und kulturellen ›Projektemacher‹ ein einzigartiges sprachliches und symbolisches Reservoir eines leidenschaftlichen, offenen geistigen Prozesses für den der Autor Lenz stets stand und steht, so auch in seiner letzten, der Moskauer Lebens- und Werkphase.