Nu mute gi liden den bitteren doet…

Der Berliner Totentanz.

von

Das fast völlig zerstörte Wandgemälde des Berliner Totentanzes ist dadurch ausgezeichnet, dass es in einem Fries nicht nur die geistlichen und weltlichen Stände des Spätmittelalters samt ihren Insignien darstellt, sondern diese Bilderfolge auch mit niederdeutschen Versen begleitet. Der Text dieser Verse stellt das Hauptanliegen dieses Buches dar. Aus allen bisherigen Druckausgaben wurde ein kritischer Text, der 1985 am Original, soweit es damals eben noch erhalten war, Buchstabe für Buchstabe überprüft werden konnte. Die ehemals nehr als 360 Zeilen sind heute noch weiter verblasst, der Fries ist hinter einer Glaskonsolenwand unzugänglich geworden und nur von weitem zu erahnen. Bereits in der ersten Abschrift des Textes sind viele Lücken und Fehlstellen in den Versen zu bemerken, und da es keine Vorlage zu diesem Text gibt, kann man die Lücken auch nur unzureichend ergänzen. Manchmal helfen ja die Reime weiter. So ist eine Textform des Berliner Totentanzes entstanden, die den bis zu diesem Zeitpunkt erkennbaren Vorrat an Zeilen und Zeichen wiedergibt. Die deutsche Uebersetzung kommt dem Original sehr nahe. Da dieses Dokument einzigartig für die Berliner Dialektgeschichte und für die Deutung des Totentanzes ist, will ich meine Kollation dem breiten Publikum vorlegen, gleichzeitig eine zeilengetreue Uebersetzung anfertigen und den Inhalt kommentieren, soweit er einer Erklärung bedarf. Auf einige Besonderheiten im Vergleich zu anderen Textüberlieferungen der Deutschen Totentänze wird besonders hingewiesen. Zudem ist der Berliner Totentanz, der älteste, noch erhaltene Totentanz in Deutschland und als naiv gestaltetes Kunstwerk von erheblicher Bedeutung, weil es einfache Vokskunst des Spätmittelalters repräsentiert und eher handwerkmässig genannt werden muss. Es ist im Stile zeitgenössischer Blockbücher koloriert und hat keine grossen malerische Qualitäten.
Mit seinen einfachen volkstümlichen Knittelversen ist er jedoch ein Vorläufer der zahlreichen Gedichte von Hans Sachs, Johannes Fischart und anderer späterer volkstümlicher Dichter. In seiner vorsichtigen Kritik der Stände und mit seinem leisen Humor ist der Berliner Fries aber gleichzeitig ein Menetekel auf die spätere Reformation mit ihren Umbrüchen in Kirche, Staat und Gesellschaft.