NullAchtNeun

von

Klischee und Wirklichkeit ¬– die Stadt im Wandel
Die Faszination der Fotografien von Lena Engel entspringt einem Klischee. Einem sehr alten und starken Klischee, das viele Menschen von Engels Heimatstadt München haben. München, die reiche, schicke, „geschleckte“ Stadt, in der es keine Ecken und Kanten gibt, an denen man sich kreativ reiben könnte. Für viele, gerade auch Besuchern der Stadt mögen die gezeigten Orte etwas unbekanntes sein. Auch für manche Münchner. Aber gerade für ältere Bürger dieser Stadt ist vieles, was Lena Engel zeigt nicht unüblich: brache Stellen, leer Orte, unaufgeräumte Plätze – ein Anblick von München, der dem Klischee der Stadt zuwiderläuft.
Das Klischee der herausgeputzten Stadt ist älter als man gemeinhin denkt. Schon 1492 schrieb ein venezianischer Reisender von der „città noblissima“, wobei ihn die mit Kieselsteinen gepflasterten Straßen mit am meisten begeisterten. Vielleicht gerade für Venezianer ein Faszinosum. Über die Jahrhunderte schien sich das Bild der prächtigen Stadt zu festigen. So notierte eine Wiener Gräfin 1831: „Der Wohlstand war hier keine Utopie. Ich sah neben den glänzenden neuen Bauten nicht, wie in anderen Städten, da und dort ärmliche oder halbverfallene Häuser, ich sah auch nirgends, weder in der Stadt noch auf dem Lande, arme Leute.“ Schön wenn man so durch die Welt gehen kann und die Realität keinen störenden Einfluss auf die eigenen Eindrücke hat. Natürlich war es damals nicht nur „glänzend“ und so ist es auch heute nicht. Heinrich Heine hatte da eine genauere Einschätzung: „Alle Häuser sind groß wie Paläste. Hier wird das Auge des Fremden, da er nicht in die eigentlichen Pöbelquartiere gerät, nirgends beleidigt von baufälligen Hütten des Elends. Überall strahlt Reichtum und Vornehmheit.“ Ihm war bewusst, dass es abseits der Pracht auch ein anderes Bild der Stadt gibt. Heute sind es nicht mehr die „Pöbelquartiere“, sondern die brachen Stellen und zeitweilig unbebauten Orte, die ein anderes Bild Münchens zeigen. Orte, wie sie Lena Engel fotografiert hat. Sie sind wichtig für ein urbanes Umfeld. Die Bewohner brauchen solche Orte, an denen sich der Geist entspannen und fern von städtischer Regulierungswut und gesichtsloser Investorenarchitektur zumindest optisch ein wenig durchatmen kann. Gedanken sprießen im Imperfekten– das Perfekte lässt dafür keinen Raum.
Auch wenn die Klischees der „geschleckten“ Stadt sich über die Jahrhunderte gehalten und verfestigt haben, gab und gibt es in München immer wieder Freiräume, kleine Fluchten – wörtlich und im übertragenen Sinne – die diese Stadt von allen anderen deutlich unterscheidet. Begonnen mit den traditionellen Biergärten, in denen man seine mitgebrachten Speisen verzehren kann, über die berühmten „Nackerten“ im Englischen Garten, das Mekka der damaligen Graffiti-Szene an der Dachauer Straße, das riesige Areal des Kunstpark Ost, die weltweit bekannte und inzwischen oft imitierte Eisbach-Welle der Surfer bis zu einem Schiff auf den Bahngleisen am Großmarkt, immer wieder schaffen Münchner Freiräume und Situationen die einzigartig in der internationalen Stadtlandschaft sind. So ist beispielsweise Münchens Hauptbahnhof der zweitgrößte der Welt und der Ausländeranteil in der Stadt der höchste aller deutschen Großstädte. Alles Dinge, die oftmals weitgehend unbemerkt die Stadt und ihre Bürger mehr prägen als es das Klischee glauben macht. Es wird um vieles in München einfach „kein großes G’schiß“ gemacht.
Genauso steht es um die Brachen und freien Areale. Solche und ähnliche Räume gibt es immer wieder. Es wird allerdings auch immer schwieriger, diese kleinen Freiheiten zu finden. Denn ein wichtiger Grund, warum die „kleinen Fluchten“ verschwinden, ist die offensichtliche Attraktivität Münchens, die dazu führt, dass derartige Areale bebaut und bestehende Quartiere verdichtet werden. Urbane Räume, wie sie Lena Engel fotografiert und dokumentiert hat, wird es aber auf die ein oder andere Weise immer wieder geben. Und so bedauerlich es ist, so sicher werden sie auch wieder verschwinden, in eben dem Rhythmus und durch den Druck, den die Stadt, ihre Bürger und ihre zukünftigen Bewohner auf den begrenzten Raum ausüben. Und es wird bei diesen Freiräumen, wie immer schon, auf die Kreativität findiger Menschen ankommen, sie zu nutzen und der Stadt wieder einen neuen, anderen Schub zu geben, den man heute vielleicht noch gar nicht ahnt. Und es ist wichtig und bedeutsam, diese Räume zu dokumentieren. Denn oftmals werden nur Fotografien daran erinnern, wie man aus der Vergangenheit die Zukunft gestalten kann. – Florian Heine