Nur die Knochen bitte

Eine Übergabe

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Es ist die Sehnsucht vieler: eine Auszeit geschenkt zu erhalten, Ruhe zu finden, Inventur zu machen. Genau dies ist das Thema von Kerstin Kempkers neuem Buch. Auch wenn sie darin nirgends ‚ich‘ sagt,
ist es ihr bislang persönlichster Text. Eine Autorin hat ein Stipendium in der Pfalz erhalten. Sie trifft im Vorfrühling dort ein – eine Städterin, die nun auf eine ruhige ländliche Szenerie hinausblickt: Rebhänge, noch unbegrünt, Hügelzüge am Horizont. Das Leben hat ein anderes Tempo hier; wenn sich etwas ereignet, wird es nicht sofort wieder verschluckt vom permanenten Wechsel der Geschehnisse.
Was man sieht und hört, zeichnet sich spürbarer in die Wahrnehmung ein; es ruft Erinnerungen wach, löst Gedanken und Bilder aus. Ein Prozeß innerer Reinigung beginnt: ‚Das große Loslassen, da liegt es, die wenigen Gewißheiten legt sie dazu, gibt alles auf. Diese seltsame Sicherheit, trotzdem nicht verloren zu sein.‘ Die Autorin verläßt die Wohnung ihrer bisherigen Gewohnheiten: eine Übergabe: ‚besenrein‘. Zuvor sortiert sie: Was kann man noch brauchen, wovon will sie sich trennen. Andenken und Assoziationen steigen in ihr auf, scheinbar zufällig in ihrer Abfolge, doch innerlich
miteinander verbunden. Dazu die Eindrücke, Lichtspiele, Objekte, Gerüche der neuen Umgebung, die Erinnerungen an frühere Veränderungen, Umzüge, Neuanfänge. ‚Schnipsel einsammeln‘, ist ihre Devise, ‚Scherben zusammenkehren‘. Säuberliche Übergabe als Utopie. ‚Und nur die Knochen bitte. Wer will schon Fleisch.‘ Der Text wird umrahmt und begleitet von vierhundert Piktogrammen, die Paula Kempker, die Tochter der Autorin gezeichnet hat. Alle zeigen sie konkrete Dinge, kleine Inventarstücke des Lebens: Hand und Fuß, Baum und Busch, Tür und Fenster, Wasser und Schnee – Bausteine der Wahrnehmung, das Genom der Erinnerung: zart, liebe – voll und heiter. Ein wunderbar poetisches Buch in Wort und Bild.