Orkaniden

Sturmgedichte

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Wozu Poesie? Die französische Philosophin Simone Weil gibt auf diese Frage eine treffende Antwort: „Das Volk braucht Poesie wie das Brot.“ Wozu aber das Volk, der Mensch, das Brot braucht, diese Frage stellt sich nicht. Der Mensch ist ein kulturelles Lebewesen, ein Lebewesen der Künste, ein Lebewesen, das seine Welt, seine Lebenswirklichkeit, interpretieren will. Er braucht das Brot und die Poesie, wie er die Luft braucht. In ihren Frankfurter Vorlesungen zu Problemen zeitgenössischer Dichtung greift die österreichische Lyrikerin und Prosaistin Ingeborg Bachmann die Antwort Weils auf und schreibt dazu: „Dieses Brot müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen.“ Und so wichtig das Brot ist, so wichtig ist die Poesie, obgleich sie die Welt nicht zu verändern vermag. Darum aber geht es ihr auch gar nicht, wie es Bachmann in einem Gespräch mit dem Germanisten und Philosophen Karol Sauerland einmal ausdrückte: „Natürlich kann man durch ein Gedicht nicht die Welt verändern, das ist unmöglich, man kann aber doch etwas bewirken, und diese Wirkung ist eben nur mit dem größten Ernst zu erreichen, und aus den neuen Leid-Erfahrungen, also nicht aus den Erfahrungen, die schon gemacht worden sind, von den großen Dichtern, vor uns.“

Die „Orkaniden“ versammeln insgesamt 30 Gedichte, die von Bianca Katharina Mohr ins Englische übertragen wurden. Die Gedichte werden von 10 Illustrationen der Künstlerin Jantien Sturm begleitet. Das Wort „Orkaniden“ ist eine von der Autorin geschaffene Bezeichnung und referiert auf das älteste Gedicht im Buch, das bereits 2012 entstand. Bei den Orkaniden handelt es sich um weibliche Sturmwesen. Julia Kulewatz betrachtet damit das vordergründig männliche Element der Luft von neuer poetischer Seite. In ihren Gedichten finden sich Themen wie Transformation von Schmerz, weibliche Kraft, das Finden der eigenen Stimme, aber auch das Dichten und Schreiben als Selbstvergewisserung des Lebens sowie das Atmen und Eintauchen in das Lebendige der Welt. Die in den Gedichten auftretenden Motive Wind und Wasser öffnen jenseitige Gedankenräume, ein verheißungsvolles Land. Die Verse singen von Liebe und Schönheit, malen Sehnsucht und Erwartung, sprechen von Abschied und Verlust. Neben den Gedichten und der Übersetzung enthält der Band ein Vorwort der Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Dr. Annelie Freese und ein ausführliches Nachwort der Übersetzerin.