Philologie und Scham

Und andere Texte von über und für Rolf Tiedemann

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Veröffentlichung aus Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Rolf Tiedemann durch die Universität Hannover.

‚Dr. Tiedemann hat die Schriften, Nachlässe und Briefwechsel zweier der bedeutendsten Theoretiker der Moderne, Walter Benjamins und Theodor W. Adornos, erschlossen und herausgegeben. Damit hat er – teilweise zum allerersten Mal – Texte lesbar gemacht, die die öffentliche Diskussion der deutschen Nachkriegsgesellschaft maßgeblich geprägt haben.‘

Während in der Mitte von Kafkas ‚Proceß‘ der Maler Titorelli, der die immer gleiche Heidelandschaft als immer neue verkauft und sein ’schamloses Lächeln […] mit erhobenem Kopf ins Leere richtete‘, etwas wie die Allegorie der heraufziehenden Kulturindustrie vorwegnimmt, wird in dem rätselvollen Schluß des Romans der durch die Lager und die Leiden der Menschen in ihnen geforderte Funktionswandel der Scham prophetisch fast innerviert, wenn es über den ‚wie einen Hund‘ Ermordeten heißt, ‚es war, als sollte die Scham ihn überleben‘. Die Josef K. ‚überlebende‘ Scham hat Benjamin Kafkas ‚vornehmste Gebärde‘ genannt: ‚Die Scham, die die intimste Gebärde der Menschen ist, ist zugleich die gesellschaftlich anspruchsvollste. Scham ist, auf ihrer höchsten Stufe, Scham nicht vor den anderen, sondern für sie.‘ In dieser Scham, die das vollendete Gegenteil der Schamlosigkeit der Kulturindustrie wäre, wird im individuellen Affekt stellvertretend die öffentliche Tugend wiederhergestellt.