Politische Ketzereien

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Man sollte meinen, dass es in einer freien Gesellschaft kein Ketzertum geben kann, weil Gedanken- und Meinungsfreiheit herrscht. Fest umschriebene Straftatbestände wie Beleidigung, Verleumdung, Störung des inneren Friedens fordern lediglich ein Mindestmaß an gegenseitiger Schonung in der für eine lebendige Demokratie konstitutiven geistigen Auseinandersetzung ein. Gefehlt! Zwar sind alle religiösen und sexuellen Tabus gefallen, und jeder Kleingeist darf, weil ihm nichts Gescheiteres einfällt, noch eimal kräftig auf die längst gestürzten Heiligenbildern und alle Regeln des guten Geschmacks geistig oder physisch scheißen oder andere in ihrer Berufsausübung scheißen lassen. Er mag sich weiter als kühner Bilderstürmer vorkommen, es nützte angesichts der eingetretenen Härtung unseres moralischen Epiderms wenig, um Aufmerksamkeit zu erwecken, wären nicht die Islamisten als letzte rabiate Gläubige übrig geblieben, die man herausfordern kann.

Im politischen Denken dagegen ist Ketzertum selbst in der freiheitlichsten Staatsordnung weiterhin möglich, wagt jemand, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, an den als allgemein gültig vereinbarten Ansichten und Wertungen zu rütteln. Wenn wir es auch nicht glauben mögen, weil es uns missfällt: Es hat noch keine Gesellschaft gegeben, die ohne Tabus ausgekommen wäre. Auch unsere permissive nicht. In Deutschland ist mit dem Straftatbestand der sog. Ausschwitz-Lüge ein solches Tabu sogar rechtlich verfestigt worden. Frankreich versucht sich an Gleichem hinsichtlich des Völkermords an den Armeniern. Der Fall ist noch krasser, denn es gibt keine lebenden Opfer mehr, deren verständliche Gefühle es zu schützen gäbe. Sie sind der Grund, weshalb in puncto Holocaust nicht der vom Bundesverfassungsgericht für die Meinungsfreiheit im Allgemeinen äußerst weit gezogene Schutzbereich gilt, der auch falsche, irrige, ja absurde Meinungen einschließt. Neben diesem rechtlich festgeschriebenen Tabu – im Grunde ein Armutszeugnis für eine demokratische verwurzelte Gesellschaft, weil man meint, man könne Verbohrtheit strafrechtlich verbieten und historische Wahrheiten gesetzlich festschreiben – gibt es mehr ‚bloß’ praktizierte politische Tabus, als man geneigt ist anzunehmen. Die folgenden Darlegungen rühren an einigen von ihnen. Die Sanktionen gegen Ketzer sind im Vergleich zum Mitttelalter ausgesprochen milde: Totschweigen, Boykott, Kesseltreiben. Gerade deswegen viel wirksamer als Folter und Scheiterhaufen je waren. Die brachten Rebellen, Märtyrer, Empörung hervor; Vorbilder und Hoffnungsträger einer heraufziehenden neuen Zeit. Die physische Vernichtung des Gegners war eine ebenso brutale wie dumme Art, zutiefst als heilig empfundene Wahrheiten zu verteidigen. Die bestialische Ermordung Giordano Brunos hat dem Papsttum mehr geschadet als Luther und Calvin zusammen. In rückständigen Teilen der Welt wird die physische Vernichtung Andersdenkender noch praktiziert. Regime, die so primitiv verfahren, haben schon allein deswegen keine Zukunft. Im zivilisierten Westen weiß man es besser. Der Tabubrecher hat keine Chance zu leidender Größe aufzusteigen. Aber schon harmlose Ausrutscher, wie sie etwa dem Bundestagsabgeordneten Hohmann oder dem früheren Bundestagspräsidenten Jenninger unterlaufen sind, reichen aus, um Menschen auf humane Weise zur Strecke zu bringen. Sie werden nicht für vogelfrei, sondern für untragbar erklärt. Es genügt; denn anders als in Fällen politischen Versagens, bis hin zur Kriminalität wie Korruption, Steuerhinterziehung, fahrlässige Tötung, Subventionsbetrug, Durchstechereien und Vetternwirtschaft, ist eine Rehabilitierung von Ketzern ausgeschlosssen.

Bewährungszeiten, Überwinterung, Neuanfänge gibt es nicht. Tabubruch, selbst der aus reiner Ungeschicklichkeit begangene, ist das einzige politische Verbrechen, das dauerhaft disqualifiziert. Einmal untragbar, immer untragbar. Martin Walser ist einem solchen geistigem Bann im Anschluss an seine Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nur knapp entronnen. Er verhielt sich anschließend, wie gewünscht, sehr vorsichtig. Die Tatsache, dass Günter Grass eine Jugendsünde jahrzehntelang verschwieg, der Eifer und Ernst, mit denen sie und eine angebliche, von noch viel läppischerer Art, des Jürgen Habermas nach ihrer Aufdeckung bzw. Behauptung vom Publikum diskutiert werden, belegen, wie blödsinnig und doch gefährlich der Zeitgeist selbst für gestandene Persönlichkeiten ist. Im Gegensatz zu den Ketzern sind Provokateure Leute ohne Geltung. Man nennt sie auch Extremisten. Sie erregen Aufsehen durch die dreiste Art oder den primitiven Inhalt ihrer Sprüche und Taten, die fast immer Untaten sind. Da sie bei jedem zureichend mit Verstand ausgerüstetem Menschen Abscheu erregen, ist diese Spezies von Tabubrechern im Grunde gern gesehen. Ihr wird jede erdenkliche Aufmerksamkeit zuteil, weil sich an ihr die Vernunft der herrschenden Auffassungen am leichtesten belegen lässt und eine gewisse Presse gut daran verdient, sich auf sie einzuschießen. Je dümmer und abstoßender sich der Gegner verhält, desto gefragter ist er in den Medien und desto leichter können sich Leute, die sonst nichts zu sagen haben, an diesem politischen Gegner, der im Grunde ein Popanz ist, profilieren. Erst wenn sich Provokateure zu Gewalttaten hinreißen lassen oder wegen völligen Versagens der politischen Klasse unerwartet in Parlamente einziehen, fallen sie lästig. Zum Glück übertreffen sie die Etablierten noch an Unfähigkeit und sind deshalb meist schnell wieder von den Balkonplätzen der Gesellschaft verschwunden.

Ich beabsichtige nicht, politische Moral zu relativieren, gar für eine von Moral befreite Politik einzutreten. Ich halte politische Moral für unverzichtbar, obwohl die folgenden Betrachtungen manches Mal ihre Brüchigkeit und Zweifelhaftigkeit in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens und des politischen Kampfes aufspüren. Der unkonventionelle Standort soll den Blick in die Geschichte und das Zeitgeschehen nicht trüben, sondern ihn schärfen helfen. Mein Glaube an die Moral, gerade in der Politik, ist ungebrochen, obwohl ich aufzeige, dass nicht jeder, der moralisch einwandfrei handelt, das politisch Richtige tut und nicht jeder, der unmoralisch handelt, Schlechtes bewirkt. Mephistos Selbstdarstellung: “Ich bin die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ ist eine in der Politik seltsam gültige Wahrheit. Allerdings ist der Preis für das am Ende herbeigeführte Gute oft unanständig hoch. Nachdenken belegt, dass Weit- und Scharfblick das beste Rezept für gute Politik ist, während Selbstgerechtigkeit, eine extreme Form geistiger Beschränktheit, zu altem Schaden neuen fügt. Selbstgerechtigkeit, zu der die Besserwisserei gehört, ist eine der negativen Eigenschaften unserer westlichen Zivilisation. Von den Vereinigten Staaten wird sie bis zum Exzess betrieben. Weil dem so ist, sind wir unfähig, sie in der Auseinandersetzung mit zivilisatorischen Gegenströmungen überhaupt zu erkennen und verdrängen guten Gewissens, aber in Wirklichkeit gewissenlos, die dunklen Seiten unserer eigenen Geschichte und gesellschaftlichen Entwicklung. Wo dies ausnahmsweise nicht der Fall ist (Holocaust), dient es häufig nicht der Erhellung, sondern eher der Verdunkelung von Erkenntnis über Probleme und Konflikte der Gegenwart. Wen das Gewissen schwer belastet, der kann die Welt nicht frei und objektiv sehen. Weder als Einzelner noch als Volk. Wer den Islam oder islamistische Bewegungen der Agressivität bezichtigt, vergisst, dass nicht der Islam uns seine Gesellschaftsordnung überstülpen will, sondern die westliche Zivilisation die ihre den islamischen Staaten und Gesellschaften. Wir Europäer und Amerikaner sind dabei recht weit gekommen, seit wir uns die Welt gewaltsam geöffnet haben, müssen aber als Rückfluss, nun islamisches Leben in unserer Mitte ertragen. Man kann Tore nicht nur in eine Richtung hin öffnen, wie die vor Selbstbewusstsein strotzenden Europäer im 19. Jahrhundert meinten.

Nachdem wir eines Besseren belehrt wurden, befremdet uns, dass es noch militante Gläubigkeit gibt, obwohl wir sie inzwischen fein säuberlich in den Blättern der Geschichte abgelegt haben.Wir Okzidentalen, Maßstab der Welt, haben diese Jugendsünden hinter uns. Sie aber einst viel heftiger ausgelebt, als andere es heute noch tun. Unsere vergangenen Verirrungen entschuldigen nicht die gegenwärtig von anderen begangenen. Zum besseren Verständnis ist aber ein Blick in den Rückspiegel nützlich. Damit sind wir schon mitten in der Thematik.