Punctum

Abhandlungen aus Kunst & Kultur

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Pontius Pilatus, in den Jahren 26 bis 36 römischer Statthalter in Judäa, wäre kaum ins Rampenlicht der Geschichte geraten, wenn ihm nicht die neutestamentlichen Evangelien ein unvergängliches Denkmal gesetzt hätten, indem sie ihn als einen an der Passion Jesu wesentlich Beteiligten schildern – bemerkenswerterweise ohne eine Wertung seiner Persönlichkeit abzugeben. Seine Frage: „Was ist Wahrheit?“, sein Ausruf „Ecce homo!“, seine zur Unschuldsbeteuerung vorgenommene Handwaschung und schließlich sein apodiktisches Beharren auf der Kreuzesinschrift „was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“ sind bis auf den heutigen Tag sprichwörtlich geblieben und den meisten Menschen im christlich-abendländischen Kulturkreis bekannt und vertraut.
Die Berichte der Evangelisten über den römischen Präfekten finden durch die antiken Historiker nur wenig direkte Bestätigung. Beim römischen Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus (gest. um 120) steht bloß die dürre Mitteilung, Christus sei von Pilatus zur Hinrichtung verurteilt worden. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (gest. um 100) sieht in ihm hauptsächlich den Unterdrücker, der keinerlei Verständnis für die Juden und deren besondere Lebens- und Denkweise aufbrachte, der Prozeß Jesu kommt bei ihm überhaupt nicht zur Sprache. Eine unmittelbare und zwar vernichtende Charakteristik des Pilatus verdanken wir dem jüdisch-hellenistischen Philosophen Philon von Alexandria (gest. um 50). Dieser hält in seinem Bericht an den Kaiser Caligula viel Arges fest, nämlich Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren. In der Folge wird Pilatus denn auch nach Rom zurück zitiert. Sein weiteres Schicksal bleibt im Dunkeln; er dürfte um das Jahr 39 gestorben sein – wie, wissen wir nicht.
Je weniger gesichertes Wissen über Pilatus existierte, desto mehr bemächtigten sich seiner die Theologie und die Legendenbildung, und zwar von der Antike an bis in die Neuzeit hinein. In bestimmten frühchristlichen Denominationen genießt er den Status eines verkappten Christen, wenn nicht gar eines Heiligen. In der schweizerischen Sagenwelt treibt er sein Unwesen auf dem nach ihm benannten Luzerner Hausberg – eben dem Pilatus. Nach wieder einer anderen Version ist er dem Ewigen Juden beigesellt.
Der Autor entwirrt als Symbol- und Mythenforscher die verschiedenen Überlieferungsstränge und verfolgt die Wege sowohl des historischen als auch des legendären Statthalters.