Schere, Stein, Papier

Essays zu Theater, Schreiben, Komik

von

Viele Aufführungen haben wir gesehen, vieles abgesessen, manches auch erlitten, selten vibriert. Eines Abend aber steht vor uns auf der Bühne nackt ein Mensch: Shakespeares Hamlet oder Büchners Woyzeck, Blanche von Tennessee Williams oder Lotte von Botho Strauss. Und während der Darsteller, die Darstellerin vor unseren Augen den existentiellen Entwurf eines anderen Menschen, des Autors, spielerisch verwirklicht, ergreift die Essenz des Theaters mächtig von uns Besitz. In diesen drei Stunden, sagt Camus über den Akteur, geht er den Weg ohne Ausflucht, für den der Mensch im Parkett sein ganzes Leben braucht, bis ans Ende. Behandelt mir die Schauspieler gut, fordert Hamlet – auch deswegen. Sie halten der Gesellschaft den Spiegel vor, fangen ein ganzes Zeitalter ein in einem Stück. Wer vom Medien-Zeitalter spricht, denkt kaum an Theater. Das aber lacht darüber längst sich ins Fäustchen. Fernsehen und Film, DVD, Computer, i-pad: Die grenzenlose Fähigkeit audiovisueller Nachbarkünste, ihre trotz allem nur zweidimensionalen, fiktiven Figuren umso authentischer mit Alltag und Umwelt – oder mit suggestiven Attributen kompletter Scheinwelten auszustatten, hat die Bühne des 20. Jahrhunderts, jedenfalls potentiell, vom Zwang befreit, Wirklichkeit krude nachzuahmen. Ausgelaugt von der historischen Verführung zu Naturalismus und Realismus kehrt Theater zurück zu seinen archaischen Fundamenten. Zwei Figuren im leeren Raum genügen seinem elementaren Ziel. Auch die Bühne kann uns kein Wahres geben im Falschen – aber was sie uns zu geben vermag wie kein anderes Medium, ist ein Widerschein des Ganzen im Stück. Leichtigkeit des Spiels von Möglichkeit und Wirklichkeit im Kunst-Raum leibhaftiger Virtualität: wie kein Ort sonst bietet Theater uns hochauflösende, anschauliche Reflexionen entscheidender Handlungs-Notwendigkeiten des Lebens. Schiller sagt’s etwas poetischer und zugleich lakonischer: Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.