Schmetterlingsregen

Märchen, die glücklich machen Hörbuch

von

Die Suche nach dem Wertvollsten der Welt

Die Sonne stand glutrot über den Sanddünen der Wüste Nagebh, als Khalim erwachte. Endlich war er seinem Ziel so nah wie nie zuvor! In der ganzen Welt hatte er gesucht, hatte undurchdringliche Wälder durchquert, die höchsten Berge erklommen und die größten Meere besegelt. Überall war er gewesen – außer in der Wüste. Hier musste es sein!
Der grauhaarige Mann rollte seine Decke zusammen und wanderte der aufgehenden Sonne entgegen. Während seine Füße eine einsame Spur im Sand hinterließen, kletterte die Sonne unaufhaltsam am Himmel empor.

Um die Mittagszeit kam Khalim zu einer winzigen Oase. Drei Palmen scharten sich um eine Lehmhütte, vor der ein uralter Mann saß. Er trug die Kleidung eines Karawanenführers, doch weit und breit war kein einziges Kamel zu sehen.
„Sie sind ohne mich weitergezogen“, sagte Samaran fröhlich. „Darf ich Euch einladen, mein kleines Paradies mit mir zu teilen, bis die Sonne den Zenit überschritten hat?“
Khalim nickte dankbar und wischte sich mit dem Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn.
„Woher kommt Ihr?“, fragte Samaran und betrachtete neugierig die blasse Gesichtsfarbe seines Gastes.
„Aus dem Norden. – Doch das ist lange her.“
„Erzählt mir von Eurer Reise!“, bat Samaran und schöpfte aus dem neben der Hütte gelegenen Brunnen einen Krug Wasser.
Khalim trank in gierigen Schlücken und begann zu erzählen. Samaran lauschte gebannt den Worten des Fremden und wagte nicht, ihn zu unterbrechen.
„Und was hofft Ihr hier zu finden?“, fragte Samaran, als Khalim geendet hatte.
„Das Wertvollste der Welt!“, entgegnete er.
„Dann seid Ihr am Ziel!“, sagte Samaran.
„Was. aber.“, stotterte Khalim erregt.
Samaran zeigte auf den Brunnen. „Das Wertvollste der Welt ist das Wasser!“
Khalim versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er war auf Flüssen gefahren so breit wie hundert Kamele und hatte aus Seen getrunken so groß wie eine Stadt. Er schüttelte den Kopf. Nein, es musste etwas geben, das noch wertvoller war als Wasser.
„Ihr glaubt mir nicht“, schmunzelte Samaran.
„Ich weiß nicht.“, nickte er.
Khalim bemerkte, dass die Sonne an Kraft verloren hatte und ein kühler Wind aufgekommen war. Er nahm Samaran zum Abschied in den Arm. Dann zog er weiter.

Es war schon dunkel, als er die Stadt Masafa erreichte. Am Stadttor stand ein bewaffneter Mann und beäugte ihn misstrauisch.
„Parole?“, fragte die Nachtwache.
Khalim zuckte mit den Schultern. „Ich bin fremd hier.“
„Dann darf ich Euch nicht hereinlassen. Kommt wieder, wenn die Sonne aufgeht!“
„Aber.“
„Ich habe meine Anweisungen. Tut mir leid.“
Doch Khalim gab noch nicht auf. „Ich bin kein Dieb und auch kein Mörder!“
„Wer seid Ihr dann?“
„Ein ehrlicher Wanderer auf der Suche nach dem Wertvollsten der Welt.“
Die Nachtwache lachte, als habe er einen Witz gemacht. „Das kann man tatsächlich nicht stehlen!“
Khalim horchte auf. „Ihr wisst, was das Wertvollste auf Erden ist?“
„Das Licht!“
Das war nicht die Antwort, die er erhofft hatte. Die Sonne schien Tag für Tag gnadenlos auf die Wüste! – So kostbar also konnte das Licht nicht sein.
„Morgen wird das Tor wieder geöffnet sein“, sagte die Nachtwache und machte damit unmissverständlich klar, dass er ihn vorher nicht hereinlassen würde.

Khalim sah sich nach einem Platz um, wo er die Nacht verbringen konnte. Abseits der Stadtmauer standen ein paar baufällige Hütten. Er legte sich auf eine Bank, die vor einer der Hütten stand. Obwohl er sich fest in seine Decke hüllte, fror er. Warum nur musste es in der Wüste am Tag so heiß und in der Nacht so kalt sein? Da öffnete sich die Tür der Hütte, und heraus trat ein ausgemergelter Mann. „Wenn Ihr einen Taler habt, könnt Ihr in meiner Hütte übernachten.“
Khalim nickte müde und gab dem Mann zwei Taler aus seinem Beutel. Der Mann lächelte überrascht und zeigte auf eine schmale Pritsche, auf der eine löchrige Decke lag. Auf einer weiteren Pritsche schliefen eine Frau und drei Kinder. Khalim machte es sich so bequem wie möglich und war bald eingeschlafen.
Als sich Khalim am nächsten Morgen verabschiedete, fragte er: „Wisst Ihr, was das Wertvollste der Welt ist?“
„Das ist das Gold“, antwortete der Mann ohne zu überlegen.
Khalim ging nachdenklich zum Stadttor hinüber. Natürlich wusste er, dass Gold wertvoll war, doch nicht so kostbar als dass es ihn einst von seiner Suche abgehalten hätte.

Die Wüstenstadt glänzte im Licht der Morgensonne, als er durch das Stadttor schritt. Er schlenderte durch die schmalen Gassen, bis er zum Marktplatz der Stadt kam. Hier gab es gegerbte Felle, bunt bemalte Tonkrüge, schmackhaften Ziegenkäse, Gewürze aller Art, süße Früchte und lebende Hühner. Aus allen Richtungen strömten die Menschen auf den Marktplatz, um die beste Ware für sich zu ergattern. Über dem Platz lag ein vielstimmiges Gewirr fröhlicher und trauriger, leiser und lauter Worte.
„Datteln! Süße Datteln!“, rief ein Marktschreier.
Khalim blieb vor dem Dattelstand stehen.
„Zehn Datteln nur vier Taler!“
„Einen Taler für acht“, sagte Khalim.
„Mein Herr, ich habe fünf Kinder zu ernähren“, entgegnete der Marktschreier.
„Einen Taler für sechs.“
„Zwei Taler. Aber nur weil Ihr es seid!“
Als der Marktschreier ihm die Datteln gab, fragte ihn Khalim: „Ihr sprecht Tag für Tag mit hunderten von Menschen. – Wisst Ihr, was das Wertvollste der Welt ist?“
Der Marktschreier dachte für einen Moment nach. Dann sagte er: „Die Stille.“
Die Stille? – Die Wüste war voll davon! So wertvoll also konnte die Stille nicht sein!
Khalim wollte gerade weitergehen, als hinter ihm jemand aufschrie. „Halt! Haltet den Dieb!“
Er drehte sich um und blickte in das aufgebrachte Gesicht einer Frau.
„Sie! Sie haben mich bestohlen!“
„Ich?“
Die Menschenmenge um ihn herum war urplötzlich still geworden und starrte ihn böse an. Khalim bekam ein mulmiges Gefühl und nahm seine Beine in die Hand. Weit jedoch kam er nicht. Denn schon nach wenigen Metern wurde er von starken Armen festgehalten.

Kurze Zeit später saß er in einer dunklen Zelle.
„Weshalb haben sie Euch eingelocht?“
Khalim zuckte zusammen. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und erblickten die Silhouette eines breitschultrigen Mannes, der in der Nachbarzelle saß. „Ich soll etwas gestohlen haben. Und Ihr?“
„Verrat“, sagte der andere Gefangene.
Khalim erfuhr, dass der andere in den vergangenen fünf Jahren nichts anderes als seine Zelle gesehen hatte.
Bis zum Abend wusste er alles über das Leben des Gefangenen.
„Könnt Ihr mir sagen, was das Wertvollste auf Erden ist?“, fragte Khalim schließlich.
„Was für eine Frage“, brummte der andere. „Das ist die Freiheit!“
Ja, vielleicht, dachte Khalim. Doch dann fiel ihm ein, dass er dem Wächter wahrscheinlich nur eine Hand voll Goldstücke zu geben brauchte, und er würde sie beide freilassen. Glücklicherweise hatte niemand die Goldstücke entdeckt, die er in seiner Hose eingenäht hatte!

Tatsächlich ließ der Wächter sie am nächsten Morgen laufen, nachdem er ihm ein paar Goldstücke zugesteckt hatte. Khalim wanderte lange umher und sah den Bauchtänzerinnen zu, die in den Gassen für den nächsten Auftritt übten, bis er schließlich zu dem Geschäft eines Teppichhändlers kam.
„Kommt herein, kommt herein!“, rief ein Mann mit schwarzen Ringen unter den Augen, lief auf ihn zu und zog ihn in den Laden. „Schaut Euch nur um. Ich bin gleich wieder bei Euch.“
Dann rannte er zum nächsten Kunden. „Ein schöner Teppich, den Ihr da im Auge habt. Handgeknüpft. Eine gute Entscheidung, eine gute Entscheidung.“
„Was soll dieser Teppich kosten?“, fragte ein dritter Kunde, der weiter hinten im Laden stand.
Der Händler rannte in den hinteren Teil des Ladens.
„Einhundert Taler.“
„Fünfzig Taler!“
„Der Teppich ist mindestens zweihundert wert. Achtzig.“
„Einverstanden.“
„Einen Tee?“, rief der Geschäftsmann zu Khalim hinüber, der die kunstvoll gewebten Teppiche bestaunte.
„Ja, gerne.“
Kurz darauf reichte er Khalim einen nach Vanille duftenden Tee und unterdrückte ein Gähnen.
„Entschuldigt. Doch ich bin seit fünf Uhr auf den Beinen – Ah, seht Euch dieses Prachtstück an: Ich habe ihn erst heute Morgen hereinbekommen!“ Der Händler sah ihn erwartungsvoll an.
„Wenn ich ehrlich bin. ich möchte keinen Teppich kaufen.“
„Weshalb seid Ihr dann hier?“
Khalim verzog das Gesicht. Der Händler schien schon wieder vergessen zu haben, dass er es gewesen war, der den Besucher in den Laden gezogen hatte. „Ich bin auf der Suche nach dem Wertvollsten der Welt.“
„Ja, ja, es gibt viel zu wenig davon.“
„Wovon?“, fragte Khalim gespannt.
„Na Zeit!“ Damit wandte er sich dem nächsten Kunden zu.

Ich traf Khalim einige Tage später. Er saß zusammengesunken auf dem Stuhl einer Herberge und starrte Löcher in die fensterlose Wand.
„Darf ich mich zu Euch setzen?“
„Bitte“, entgegnete er mit monotoner Stimme.
„Ich kenne Euch nicht. Aber wenn ich Euch irgendwie helfen kann.“, bot ich ihm an.
Er schwieg. Als ich schon glaubte, er wolle nicht mit mir reden, sagte er: „Ich habe es überall gesucht. und doch nicht gefunden.“
„Was habt Ihr nicht gefunden?“
„Das Wertvollste der Welt!“
Dann erzählte er mir von den Menschen, denen er begegnet war und den Antworten, die sie ihm auf seine Frage gegeben hatten.
„Ist Euch niemals der Gedanke gekommen, dass sie alle Recht haben könnten?“
Khalim blickte mich unsicher an. Und plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
„Danke. Ihr habt mir sehr geholfen.“
„Und was ist das Wertvollste für Euch?“, wollte ich wissen.
Als er ein wenig ratlos die Schultern hob, wusste ich, dass es Zeit war für mich zu gehen.

Schmetterlingsregen

Vorsicht! In jedem Märchen verbirgt sich ein Tröpfchen Glück. Bereits eine Geschichte vor dem Schlafen gehen verführt dazu, dem Alltagstrott des nächsten Morgens mit einem Lächeln zu begegnen.

Die Märchen sind miteinander verwoben durch die kleinen und großen Geheimnisse des Glücks.