Schweizer Texte, Neue Folge

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Unter den verlorenen und vergessenen Dichtern der Schweiz gehört William Wolfensberger (1889–1918) wohl zu den vergessensten. Der früh an der Spanischen Grippe verstorbene Dichter-Pfarrer legt in seinem kurzen und intensiven Leben eine Reihe von Erzählungen und Gedichten vor, die ihresgleichen in der Schweizer Literatur in der Zeit um den Ersten Weltkrieg suchen. Die Titel seiner noch von ihm selber herausgegebenen Publikationen «Unsers Herrgotts Rebberg» (1916), «Religiöse Miniaturen» (1917) und «Lieder aus einer kleinen Stadt» (1918) scheinen auf den ersten Blick religiöse Erbauungsliteratur zu versprechen, aber mit frömmlerischen Geschichten haben Wolfensbergers literarische Texte nichts zu tun. Wolfensberger ist ein getriebener Gottsucher und nachhaltiger Zweifler.
In Zürich aufgewachsen und dort zum Pfarrer ausgebildet, verschlägt es ihn 1916 nach Fuldera ins bündnerische Münstertal, wo der Städter als Seelsorger eine bäuerliche Kultur in all ihren Facetten kennenlernt. Weit entfernt von der später in den Zeiten der Geistigen Landesverteidigung einsetzenden Verherrlichung des Bauernstandes schildert Wolfensberger Intrigen und Kabalen, Sehnsüchte und Nöte des einfachen Volks. Als feiner und genauer Beobachter betreibt der Autor literarische Dorfsoziologie mit ausserordentlicher psychologischer Raffinesse. Dies macht sein umfangreichster und vielleicht wichtigster Text «Die Glocken von Pralöng» auf eindrückliche Weise deutlich, geschrieben 1918 und erst nach dem Tod des Autors im Nachlassband «Köpfe und Herzen» (1919) publiziert.