Sein Schatten über mir

von

Was bringt einen Gymnasiallehrer unserer Tage dazu, das Denken, Fühlen und die Sprache Goethes zum Maßstab für sein eigenes Leben zu machen? Und was bringt eine Frau dazu, ein solches Leben teilen zu wollen?
Dr. Wolfgang Zekkert, der Ministerialverlautbarungen genauso befolgt wie er sich dem Trend der späten 68er anpaßt, eifert dem Olympier auch im täglichen Leben nach und baut Liturgien des Zusammenlebens auf, für deren Durchführung seine Frau zuständig ist. Aus ihrem Blickwinkel erfährt der Leser von der Mühe, die auf eine literarisch fixierte Form des Lebens verwendet werden muß.
Aber es geht nicht nur um das tägliche Leben. Vielmehr soll Marie, die Ehefrau, nach und nach all die Frauengestalten repräsentieren, von denen der Goethe-Epigone annimmt, daß sie zu seiner Inspiration und Lebenserfüllung notwendig sind. Dabei entgleitet ihm das Leben, das Marie ‚bescheiden und leise‘ neben ihm und ihm zu Diensten verbringt, völlig.
Weder ahnt er etwas von ihrem Liebhaber, noch hat er begriffen, daß sie, während sie ihm seine pedantischen Wünsche erfüllt, darüber phantasiert, ihn umzubringen. Selbst bei banalen Küchenverrichtungen spielen sich innere Dramen bei ihr ab. Es ist ein weiter Weg von Mignon über Charlotte und Christiane, den Marie zurücklegt, bis sie zu sich findet.
Diese Geschichte einer asynchronen Beziehung kann nicht glücklich enden. Marie weiß, daß sie aus dem Schatten des Dichters und seines Trabanten treten muß.