Stigmata

Poetiken der Körperinschrift

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In einem ganz wörtlichen Sinne erlebt das Stigma gegen Ende des 20. Jahrhunderts als Branding und Piercing eine unter die Haut gehende Renaissance. In einer schwer durchschaubaren Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen stehen diese modischen Praktiken mit den Manifestationen der Stigmata im engeren Sinne: den Malen, die dem Körper Jesu Christi in der Passion zugefügt wurden und noch seinen verklärten, auferstandenen Körper zeichnen. Seit Franz von Assisi ist eine kleine Schar von Auserwählten mit diesen Malen gezeichnet worden. Stigmata sind geistige Wunden als Manifestationen der imitatio Christi in einer komplexen Zeichengebung zwischen Wiederholung und Neueinsatz. Dadurch wird der Körper in einen anderen verwandelt, zum Schauplatz einer Präsenz gemacht, die ebenso korporal wie figural und mimetisch ist. Am Phänomen der Stigmata haben die unterschiedlichsten Disziplinen ihre semantischen und referenztheoretischen Grenzen erfahren. Die Erklärungsversuche von Theologie und Medizin, Recht, Psychologie und Psychoanalyse sind oft der Selbstaufklärung ihrer Wirklichkeitsannahmen dienlicher als der Erhellung der Phänomene. Diese Annahmen und die durch sie begründeten Modelle des Wissens werden daher in dem vorliegenden Band ebenso zum Gegenstand der Analysen wie die Darstellungsordnungen und -medien, mit denen das Phänomen der Stigmata verbunden ist.

Aus dem Inhalt

Einleitung: Stigmata – Zur Archäologie eines trügerischen Phänomens in Mittelalter und Moderne

BARBARA VINKEN
Via crucis, via amoris
BETTINE MENKE
Nachträglichkeit und Beglaubigungen

I Urszene, Deckerinnerungen (Antike)

SUSANNA ELM
Marking the Self in Late Antiquity. Inscriptions, Baptism and the Conversion of Mimes
ANSELM HAVERKAMP
Christ’s Case. The Triumph of Sado-Masochism

II Refiguration, Traditionsbildung (Mittelalter, Barock)

CHIARA FRUGONI
„Ad imaginem et similitudinem nostram“. Der Heilige Franziskus und die Erfindung der Stigmata
CAROLINE WALKER BYNUM
Die Frau als Körper und Nahrung
NIKLAUS LARGIER
Die Logik der Erregung. Franz von Assisi, Teresa von Avila und Thérèse philosophe
BERNHARD TEUBER
Sichtbare Wundmale und unsichtbare Durchbohrung. Die leibhafte Nachfolge Christi als Paradigma des anhermeneutischen Schreibens
WOLFGANG SCHÄFFNER
Die Wunder des San Francesco d’Assisi und der Therese Neumann. Elemente einer Mediengeschichte des Stigmas
ULRIKE SPRENGER
Köpfe und Körper. Flagellanten, Historiographie und Hagiographie in Sevilla
CHRISTOPHER WILD
Weder worte noch rutten. Hypotypose. Zur Evidenz korporealer Inskription bei Andreas Gryphius

III Wiederholen, Durcharbeiten (Romantik, 19. Jahrhundert)

GABRIELE BRANDSTETTER
„Reliquienberg“ und Stigma. Clemens Brentano und Anna Katharina Emmerick. Der Blut-Kreislauf der Schrift
BETTINE MENKE
„Mund“ und „Wunde“. Zur grundlosen Begründung der Texte
BARBARA VINKEN
Herz Jesu und Eisprung. Jules Michelets devotio moderna
GEORGES DIDI-HUBERMAN
Anhaltspunkt für eine abwesende Wunde. Monographie eines Flecks

IV Praxis, Wissen (Theorie)

STEFANIE DIEKMANN
Nichts zu sehen. Zur Verteilung und Umverteilung von Zeichen in Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray
STEFAN RIEGER
Stiche des Wissens. Zur Genealogie der Psychophysik
STEFANIE PETER
Stigmata und Stimmen. Techniken und Medien der Verlebendigung im populären Katholizismus