Übers Eis

von

‚Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter. Als dasJahr 1984 anfing, nach der Trennung, hatte ich vom einenzum anderen Tag nix mehr. Auch keine Wohnung,kein Selbstbild, noch nicht einmal der Schlaf ist mirübriggeblieben. Wie es scheint, fängst du dein Lebenalle paar Jahre neu und von vorn an. Mitten in der Katastrophe,wie aus der Welt gefallen. Kaum ist es hell,setzt der Tag sein Verhör mit mir fort. Eine Abstellkammerin einer fremden Wohnung. Ende Januar eingezogen.Ich steckte Notizzettel ein und ging meine Tochterbesuchen.’So beginnt das Buch, das erste von von Peter Kurzecksgroßer autobiographisch-poetischer Chronik Das alteJahrhundert. Stadt- und Zeitgeschichte, die Gegenwart,ein Buch über Deutschland. Mit Menschen, wie sie inder Literatur sonst kaum oder gar nicht vorkommen.Und das Buch soll jedem von ihnen zu seiner eigenenSprache verhelfen.’Peter Kurzeck protokolliert seinen schwankendenGang ›übers Eis‹ nach Art eines Selbstverhörs, einer Litaneimit Motiv- und Satzwiederholungen. Gleich einerFilmkamera registriert er nichts als Wirklichkeitspartikel,die er scheinbar wahllos aufeinanderhäuft. Allein,das vermeintliche Chaos ordnet sich beim Lesen zueinem Gesamteindruck, dem man sich schwer zu entziehenvermag. Ein leiser, eindringlicher Ton von Verzweiflungund Vergeblichkeit erklingt, eine Melodiein ›Winterreise‹-Moll, voll Sehnsucht des nächtlichenWanderers nach der Sicherheit und einem Zuhause.’Ulrich Weinzierl, F.A.Z.’Als ob er in Wahrheit nie aufgehört hätte, der Krieg,schreibt Peter Kurzeck. Er ist der kaum sichtbare Unterstromdes Redeflusses. Das versteckte Trauma, das alleumtreibt. Das abgelehnte Pflichtteil, das sich dennochdurch die Generationen vererbt. Auswanderer, Flüchtlinge,Nomaden scheinen sie alle, die Kurzeck in die Invertarlistenseines Zeitalters einträgt. Außer Atem, wievom Drehschwindel gepackt sind die Figuren, außerAtem ist die Zeit.‘ Rainer Michael Schaper, Die Zeit’Weil er als genauigkeitsbesessener Autor nicht nurlückenlos das eigene Leben, sondern gleich sein ganzesZeitalter aufschreiben will, wird Kurzeck manchmalvon den unzähligen Details seiner Lebenswelt überwältigt,die er dann in einem assoziativ-hektischen Tagebuchstilhintereinanderreiht. In einer grossen kreisendenBewegung wiederholt er beschwörend immerwieder seine Motive von Daseinsangst, Liebesverlustund Zeitvergehen, um sich schliesslich ins manischeWeiterschreiben zu retten. Und dennoch kehrt manimmer wieder zu diesem Roman (…) denn hier schreibtein melancholischer Nomade um sein Leben.’Michael Braun, Basler Zeitung’Aus dem Verschwinden des Ichs in der Aufmerksamkeitentsteht, so scheint es, das dünne Eis, auf dem Weiterlebenvorsichtig möglich wird.’Cornelia Niedermeier, Der StandardÜbers Eis erschien zuerst 1997, später in Lizenzausgabeals Suhrkamp-Taschenbuch und wird zum Herbst 2011neu aufgelegt.Peter KurzeckÜbers EisRoman(Das alte Jahrhundert 1)