Un voyage – quelles coincidences!

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Maïssa Bey, eine zutiefst humane und mutige Schriftstellerin unserer Tage, behandelt in diesem Kurzroman die Frage der persönlichen Verantwortlichkeit in einer militärischen Auseinandersetzung. Obwohl der Vater der frankophonen Autorin im algerischen Befreiungskampf (1954-1962) von französischen Soldaten zu Tode gefoltert wurde, ist in ihrem Bemühen um Vergangenheitsbewältigung kein Ressentiment festzustellen. Ja, an manchen Stellen ist sogar eine ausgesprochene Sympathie für französische bzw. europäische Lebensweise wahrzunehmen. Vorurteilsfrei gelingt ihr eine vertiefte Behandlung der Schuldfrage, wobei sie sich für ähnliche Problemstellungen in Bernhard Schlinks Der Vorleser interessiert und diese in der eigenen Darstellung berücksichtigt. Es bietet sich daher an, dass eine Lerngruppe das entsprechende deutsche Werk liest, sodass bei einem Vergleich Unterschiede und Gemeinsamkeiten erarbeitet werden können, ein interessantes und lohnendes Unternehmen. Beide Male hatten die Autoren die Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu gestalten.

Wenn die französisch-algerischen Auseinandersetzungen (1954-1962) nicht bekannt sein sollten, ist es ratsam, den kurzen historischen Abriss am Ende dieses Bändchens zu lesen, damit die Anspielungen, die erwähnten Erinnerungs-fetzen der Personen leicht in einen Rahmen eingeordnet werden können. Gleichzeitig wird ein wichtiges Kapitel der französischen Landeskunde angesprochen. Heute ist Algerien ein junges, selbstständiges Land voller Dynamik, das trotz einer bisweilen schwierigen, wechselhaften Vergangenheit auf eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich großen Wert legt und in dem die französische Sprache eine enorm wichtige Rolle spielt. Im Übrigen ist wichtig zu sehen, dass die Länder des Maghreb ─ Marokko, Algerien, Tunesien ─ heute eine wachsende Bedeutung in wirtschaftlicher (Energiegewinnung), touristischer, aber auch politischer Hinsicht für Europa gewinnen.

Die Probleme, die in diesem Kurzroman angesprochen werden, haben zeitlose Bedeutung. Sie betreffen z.B. das Verhalten im Militär von Einzelnen gegenüber Befehlen, die von oben kommend offensichtlich moralisch nicht vertretbar sind. Wie soll der Einzelne reagieren? Kann oder soll er sich dem entziehen? Und wie? Manche Fragen tauchen auf, die denen von Maïssa Beys großem Landsmann Albert Camus ähneln, dessen 100. Geburtstag wir vor Kurzem gedachten. Die Lösung der Fragen überlässt die Autorin dem Leser. Viel Freude, Spannung und Nachdenken bei der Lektüre eines Kurzromans, der wie ein Krimi beginnt und offen endet.