Unter dem Apfelbaum

von

Magda, Mathilda, Marlies, Milla – vier Generationen einer Familie, die von Sprachlosigkeit geprägt ist. Während Magda immer stiller wird, kommt Milla bereits stumm zur Welt. Und obwohl die vier Frauen über ein Jahrhundert verstreut leben, vermischen sich ihre Schicksale zunehmend.

„Das Gesicht war ihres, stellte Marlies erleichtert fest, ein wenig bleich, ja, die Wangen gerötet, die Augen, nun … sie legte die Hand neben ihr Spiegelbild. Ihr war, als sähe sie in den Augen die schlammfarbenen Pupillen ihrer Mutter, Gott hab sie selig, als wären sie ein Tunnel, diese Augen, noch weiter zurück sah sie, erkannte die ihrer Großmutter, von der sie nie etwas erfahren hatte, kein Foto gesehen hatte, aber sie war es, spürte Marlies, warm wurde ihr ums Herz, das Gesicht verschwamm, nur die Konturen blieben erkennbar, konnten ihre eigenen sein oder die der neugeborenen Milla, genau.“

Vier Generationen von Frauen und ihre Lebensgeschichten: Millas Urgroßmutter Magda wird 1902 im Alter von zehn Jahren an einen reichen Hof gegeben, um zu arbeiten und die eigene Familie zu entlasten. Da Magda bei der Geburt ihrer Tochter Mathilda stirbt, schickt ihr Mann diese ins Internat einer Landwirtschaftsschule. Der Krieg veranlasst Mathilda, die eigene Tochter, Marlies, vor der anrollenden Front fortzuschicken, während sie selbst das Gut zu hüten versucht.

„Die Plane des letzten Wagens verdeckte ihr den Blick auf Marlies. Mathilda kniff die Augen zusammen, suchte nach einem Riss oder einem Loch in der Plane, nach einer Möglichkeit, hineinzuspähen und etwas zu sehen, was das Herzklopfen und die Übelkeit eindämmte, die sie mit jeder Wagenlänge stärker spürte, die sich der Treck entfernte. Mathilda hob die Hand und öffnete den Mund. Ein stummer Schrei verpuffte in der Kälte.“

Marlies’ Tochter, Milla, ist von Geburt an taub und stumm und wird schließlich in die Obhut einer Bäuerin gegeben, die ihr Haus als Heim für behinderte Jugendliche führt. Dies ist der Beginn der Geschichte, wir schreiben das Jahr 1973.