Werke und Briefe. Wissenschaftliche Ausgabe

Transkription und Kommentar

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Die Zeitschrift ‚Freie Bühne‘ ist untrennbar mit der Geschichte des Naturalismus verbunden. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama ‚Vor Sonnenaufgang‘ gegründet, machte sie es sich zur Aufgabe, ‚die neue Kunst, die die Wirklichkeit anschaut und das gegenwärtige Dasein‘ auf ihren Seiten darzustellen. Die maßgeblichen Dichter des Naturalismus stellten dort ihre neuesten Werke vor, ihre ästhetischen Mittel wurden in einer Vielzahl von Aufsätzen diskutiert, und das Gegenwartstheater, das sich nur langsam dem neuen Kunstverständnis annäherte, wurde kritisch begleitet.
Der Name Otto Brahm steht bis heute für die Durchsetzung dieses neuen, realistischen Theaterstils. Er nahm Hauptmanns Erstlingswerk zur Inszenierung für den Theaterverein Freie Bühne an, er gehörte neben Samuel Fischer zu den Begründern der gleichnamigen Zeitschrift, und er verschaffte ab 1894 der neuen Bühnenkunst an dem von ihm geleiteten Deutschen Theater einen nachhaltigen Erfolg. Vielen gilt Otto Brahm daher auch als derjenige, der die ersten Jahre der ‚Freien Bühne‘ maßgeblich geprägt hat, bevor diese durch den langjährigen Redakteur Oscar Bie ihr endgültiges Profil erhielt, das sie durch alle Zeitläufte bis heute (unter dem Namen Neue Rundschau) beinahe unverändert beibehalten hat.
Tatsächlich aber war Otto Brahms Einfluss auf die Zeitschrift geringer, als im Allgemeinen angenommen wird. Bereits dem Impressum ist zu entnehmen, dass er der ‚Freien Bühne‘ nur in ihrem ersten Jahr als Redakteur zu Verfügung stand, und auch als Herausgeber wird er nur bis Ende 1891 genannt. Schon seit August 1890 jedoch stand ihm mit Wilhelm Bölsche ein Mitarbeiter zur Seite, durch den die Zeitschrift alsbald eine neue konzeptionelle Ausrichtung erhielt. Die bis dahin weitgehend ästhetische Orientierung der ‚Freien Bühne‘ ergänzte Bölsche durch soziale, ethische, gesellschaftspolitische und naturwissenschaftliche Fragestellungen, wodurch die oben zitierte Programmatik erst in ihrer vollen Bedeutung realisiert wurde. Diese Veränderungen setzten unmittelbar nach Bölsches Eintritt in die Redaktion ein, und nachdem er 1891 die Redaktionsleitung von Brahm übernommen hatte, sind sie unschwer als neues Konzept erkennbar.
Nach Ablauf des Jahres 1891 zog sich Otto Brahm auch als Herausgeber der Zeitschrift zurück. An seine Stelle trat (was nach außen nicht sichtbar wurde) der Wiener Philosoph Christian von Ehrenfels, der die ‚Freie Bühne‘ zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr finanziell unterstützt hatte. Von 1892 an war er neben Samuel Fischer für einige Jahre gleichberechtigter Teilhaber an der Zeitschrift. Dieses bislang unbekannte Detail aus der Geschichte des S. Fischer Verlages konnte vom Herausgeber im Zuge der Briefedition aufgedeckt werden. Es wird in der Einleitung ausführlich vorgestellt.
Der Briefteil, der die Korrespondenz Wilhelm Bölsches mit den Autoren der ‚Freien Bühne‘ präsentiert, ermöglicht erstmals einen detaillierten Blick auf die Zeitschrift in den Jahren 1890 bis 1893. Bölsches Engagement für die Zeitschrift wird deutlich erkennbar, sein Verhältnis zu Brahm, die freundschaftliche Verbindung mit einem Großteil der Autoren und seine Bemühungen um ein neues inhaltliches Konzept. In zwölf Kapiteln werden insgesamt 70 Autoren mit über 600 Briefen vorgestellt, darunter diejenigen, die die literarische Landschaft zum Ausgang des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben. Ein ausführlicher Stellenkommentar geht den vielfältigen Verbindungen zwischen ihnen nach und zeigt ihre Beziehungen zu den konkurrierenden Zeitschriften jener Zeit. Der Band eröffnet dadurch nicht zuletzt einen tiefen Einblick in die ästhetischen Auseinandersetzungen des Naturalismus.