Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung?

Eine Kritik aus aristotelischer Sicht

von

In der Auseinandersetzung um das Verhältnis der westlichen Moderne zu anderen Kulturen, Gesellschaften, Religionen spielt die Berufung auf die Aufklärung eine wichtige, vielleicht die wichtigste Rolle. Die Befreiung von der Bevormundung durch religiöse und politisch-gesellschaftliche Autoritäten durch die Entdeckung der Selbstständigkeit der jedem zur Verfügung stehenden eigenen Vernunft gilt vielen als ein erreichtes kulturelles Niveau, das nicht mehr unterschritten werden dürfe. Diese Unterscheidung zwischen einem Zustand der Aufgeklärtheit und einem des Nicht-aufgeklärt-Seins brachte und bringt allerdings viele Verständnisschwierigkeiten zwischen den so getrennten Seiten mit sich.

Die Vernunft der Aufklärung kann aber auch nicht einfach als die Vernunft überhaupt verstanden werden, die die westliche Moderne von allen früheren Epochen und allem gegenwärtig Fremden unterscheidet. Auch diese Vernunft hat ihre historischen Bedingungen und ihre Grenzen. Es gab auch in anderen Zeiten und Regionen ein Nachdenken über die Vernunft ‚selbst‘ und ihr Können.

Das Anliegen, dem sich dieses Buch stellt, ist, am Beispiel von Aristoteles zu belegen, dass es sich lohnt, auch scheinbar ‚überwundene‘ Konzepte als Partner einer verbindlichen Diskussion zu betrachten. Allein die (über 1500 Jahre) außergewöhnlich lange und außergewöhnlich elastische Vermittlungs- und Verständnisleistung, die zwischen den Kulturen (auch zwischen Orient und Okzident) durch Aristoteles möglich geworden war, macht eine Auseinandersetzung, die nicht nur Vergangenes beschreibt, sondern es in seinem Anspruch ernst nimmt, attraktiv – auch als Beitrag zur Lösung von Verständigungsproblemen, denen wir uns heute stellen müssen.