Zeitenbeugung

Am Anfang bleibt Zofia

von

Als Kind wurde sie vollgestopft mit den Erinnerungen der Anderen, mit gehaltvollen, zart schmelzenden Erinnerungen, heimtückisch wie verstecktes Fett in Kartoffelchips.
Nun ist der Großvater gestorben, und die Erzählerin lässt ihre polnisch-deutsche Familiengeschichte aus dem Ruhrgebiet Revue passieren – die vom Hörensagen und die, an der sie als Kind teilhatte.
Da ist die Geschichte von Zofia, Ururgroßmutter der Erzählerin, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg voller Hoffnung mit ihrem Mann aus Polen ins Ruhrgebiet kommt. Und die von Minna und Wanda, den beiden anderen starken Frauen der Familie, die inmitten dramatischer Zeiten versuchen, das Schicksal der Familie in ruhige Gewässer zu steuern. Oder die Geschichte von Karl, der als überzeugter Nazi die ‚Eindeutschung’ der Familie betreibt. Oder der fettleibige Norbert, der in den fünfziger Jahren als Beleuchter mit einer Wandertheatergruppe durch die westfälische Provinz tingelt und sich rettungslos in die einbeinige Souffleuse Marga verliebt.
All diese Lebensgeschichten sind geschickt miteinander verwobenen und verknüpft durch ein Band aus unausgesprochenen Schuldgefühlen und verlorengegangener Identität, von dem sich die Erzählerin befreien will. Der Tod der Großeltern, die mit ihren Geschichten und Anekdoten die Erinnerung an längst verstorbene Verwandte und Familienereignisse wach gehalten haben, bietet ihr Gelegenheit, eine Ordnung grammatischer Art in ihre Erinnerungen zubringen, eben eine „Zeitenbeugung“.
Ulrike Melzer gelingt es mit ihrer kunstvoll-schlichten Sprache, diese Familiensaga aus dem Ruhrgebiet zu einer hypnotisch fesselnden Lektüre zu verdichten.