Zwei Lebensgeschichten im Detail

Die Neapolitanische Saga | Elena Ferrante besprochen von Niamh O'Connor am 19. März 2018.

Bewertung: 5 Sterne

2011 erschien Meine geniale Freundin, der erste Band von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga, vor wenigen Wochen kam der vierte Band der Serie in deutscher Übersetzung als Die Geschichte des verlorenen Kindes in die Buchhandlungen. Ich hatte zwar die ersten drei Teile nicht gelesen, wollte mir dieses Buch aber trotzdem nicht entgehen lassen, war es doch von der Kritik hochgelobt und 2016 für den Man Booker International Prize nominiert worden. Die Hörbuchfassung wird von Eva Mattes gelesen, ein weiteres starkes Argument für die Geschichte. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich beim Hörverlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplar herzlichst bedanken.

Die Neapolitanische Saga, das sind die Lebenserinnerungen von Elena Greco, einer linken Intellektuellen und Schriftstellerin. Sie stammt aus  dem Rione, einem Armenviertel bei Neapel, wo sie in den 1950er-Jahren gemeinsam mit ihrer besten Freundin Raffaella Cerullo, genannt Lila, zur Schule gegangen ist. Dem Hörbuch ist eine kleine Broschüre beigelegt, eine Art „Was bisher geschah“ der ersten 3 Teile, es war also nicht schwer, den Einstieg zu schaffen. Die Geschichte des verlorenen Kindes nimmt den Faden in den späten 1970er-Jahren auf, als Lila und Elena Anfang 30 sind.  Die beiden waren in der Schule Klassenbeste gewesen, aber während Elena Neapel verlassen, studiert und Karriere gemacht hatte, ist Lila nie wirklich aus der Stadt hinausgekommen. Sie hatte sehr jung geheiratet und einen Sohn bekommen, und nach dem Scheitern ihrer Ehe und einer Affäre mit Nino Sarratore, für den sowohl sie als auch Elena schon als Mädchen geschwärmt hatten, ist sie dabei, mit ihrem neuen Mann Enzo eine Firma aufzubauen. Elena hatte einen Universitätsprofessor aus Florenz geheiratet und zwei Töchter zur Welt gebracht, aber jetzt hat auch sie sich mit dem verheirateten Nino Sarratore eingelassen und ist nach Neapel zurückgekehrt. Innerhalb weniger Monate bekommen beide Freundinnen nochmals jeweils eine Tochter, und ab diesem Zeitpunkt wird die Verbindung zwischen den beiden Frauen wieder sehr eng.  Die Erzählung spannt den Bogen bis ins Jahr 2010, wo die Geschichte so endet, wie es im Prolog des ersten Bandes vorweggenommen worden war.

Meine Meinung: Im letzten Teil einer Serie einzusteigen ist natürlich ein Risiko, gleichzeitig hat es den Vorteil, dass man die Geschichte unvoreingenommen lesen und beurteilen kann. Gleich vorweg: Ich würde niemandem empfehlen, meinem Beispiel zu folgen, nicht deswegen, weil der Einstieg zu schwierig wäre oder man die anderen Teile spoilern würde, sondern deswegen, weil ich vermute, dass die Beschreibung der Geschehnisse in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht zum Besten gehört, was Elena Ferrante zu Papier gebracht hat. Ich habe nach dem letzten Kapitel von Band 4 auch in den ersten Band, also den Beginn der Geschichte, hineingehört, und dieser hat mich sofort gefangen genommen. Im Prolog von Band 1 lässt die Autorin die fiktive Schriftstellerin die Erzählung mit folgenden Worten beginnen:

Ich schaltete den Computer ein und begann, unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist. (Aus: Elena Ferrante, Meine geniale Freundin)

Das tut sie nun, und es ist ihr trotz der nüchternen, unsentimentalen Erzählweise sofort gelungen, mich in das Neapel der 1950er-Jahre mitzunehmen und mich das Schicksal der beiden Mädchen gespannt und mit Empathie verfolgen zu lassen. Bei der Geschichte des verlorenen Kindes dauerte es lange, bis sich dieses Interesse an den Charakteren und ihren Schicksalen einstellte. Bei dem hier beschriebenen Lebensabschnitt hat  ‚in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist‘ für mich nicht funktioniert. Über viele Seiten erzählt Elena von ihrer Beziehung zu Nino, dem mühsamen Hin und Her einer Affäre mit einem verheirateten Mann, der sich nicht zwischen alter und neuer Familie entscheiden kann und, wie auch Elenas Freundin Lila immer wieder anmerkt, schlicht und einfach ein Arschloch ist. Elena, die gebildete linke Feministin, tut genau das, was unzählige Frauen vor und nach ihr getan haben, sie lässt sich emotional manipulieren und hofft, dass Nino sich für sie und die gemeinsame Tochter entscheidet. Und sie berichtet davon, schonungslos und mit der Genauigkeit einer soziologischen Fallstudie. Elena Ferrantes Romane werden genau dafür gelobt, dass sie nämlich das Seelenleben von Frauen offen, ehrlich und ohne Scham darlegen, und dem kann ich auch zustimmen.  Allerdings fand ich die Schilderungen streckenweise so lapidar, wenn auch in allen Details ausgeführt, dass ich kein echtes Interesse für das Schicksal der Protagonistinnen aufbringen konnte.  Auch die Schilderung von Mordanschlägen der Camorra oder von realen Ereignissen wie dem Erdbeben von 1980 und sogar die Geschichte des verlorenen Kindes machten auf mich emotional nicht mehr Eindruck  als entsprechende Berichte in Tageszeitungen. Hätte ich nicht die Möglichkeit gehabt, das Hörbuch einfach nebenbei weiterlaufen zu lassen, ich denke, ich wäre über die Hälfte des Buches nicht hinausgekommen. Das wäre schade gewesen, denn das Ende hat mich sehr berührt. Es nimmt die Motive des ersten Bandes der Saga wieder auf und sorgt dafür, dass sich der Kreis schließt, während die Geschichte gleichzeitig ein wenig geheimnisvoll bleibt. Wären die vier Bände als ein Buch erschienen, wäre mein Fazit wohl: Die Geschichte der Freundschaft zwischen zwei Frauen als Spiegel der sozialen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Süditalien, auf beeindruckende und berührende Weise dargelegt, allerdings mit einigen Längen.

Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob Eva Mattes den Roman anders lesen und ihm auf diese Weise eine größere Emotionalität verleihen hätte können, aber ich denke, dass das den Intentionen der Autorin widersprochen hätte. Auf dem Cover des Hörbuchs wird dazu ein Kommentar aus der Süddeutschen Zeitung zitiert: Wenn die Erzählerin ihre Geschichte ursprünglich auf Deutsch vor sich hin gesprochen hätte, dann hätte dies sich wohl angehört wie diese Lesung von Eva Mattes.

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