Etüden im Schnee

Roman

von

Wer erzählt? Ist es ein Mensch, ein Gespenst, ein Tier? Es meldet sich in politischen Versammlungen zu Wort. Es erzählt, wie es gelernt hat, die Vorderpfoten zu heben. Indem der Pfleger es auf einen Metallboden stellte, Hinterpfoten in Schuhen, der Boden wurde immer heißer, bis die Hitze unaushaltbar wurde, zugleich erklang ein Fanfarenstoß und ein Befehl. Sie musste die Vorderpfoten heben.

Drei Eisbären, Großmutter, Mutter und Sohn, erzählen ihre Geschichte. Sie sind Migranten, die Älteste lebte in Moskau und emigrierte nach Westdeutschland und dann nach Kanada, ihre Tochter kommt von dort in die DDR und arbeitete im Zirkus und deren Sohn wird im Berliner Zoo geboren – inzwischen ist der Mauerfall schon lange her – und auf der ganzen Welt bekannt.

In Yoko Tawadas Texten gehen Traumebenen und Realität vergnügt ineinander über. Kleine Details beleuchten scheinbar Selbstverständliches aus unserem Alltag in neuem Licht. Mythen aus verschiedenen Teilen der Welt – zum Beispiel, dass Bären Seelen von Menschen rauben – werden ebenso lebendig wie zeithistorische Realität.

Der Roman ist ein Zeitporträt, eine Migrantengeschichte über drei Generationen hinweg. Die Eisbären-Großmutter wirft dem berühmten (sein Name Knut ist z.B. in den USA mehr Menschen ein Begriff als der Name der Kanzlerin) Berliner Enkel vor, nur niedlich zu sein. Doch das stimmt nicht, er tritt mit seinen Politikerkontakten für Umweltschutz ein, gegen das Artensterben. Er wird aufgefordert, die Geschichte des Nordpols zu schreiben. Aber, wie viele Migranten, war er selbst nie in seiner Herkunftsregion, auch seine Mutter und seine Großmutter nicht, drei Generationen sind bereits in Europa geboren.
Die Pflegerin seiner Mutter tauschte mit ihr Todesküsse. Ein Mythos besagt, dass Bären die Seele der Menschen rauben können. Beim Kuss gehen die Eisbärin und ihre Pflegerin ineinander über. Die Eisbärin schreibt gegen das Vergessen an. Die berühmte Eisbären-Pflegerin arbeitete nach Ende der DDR noch eine Weile im Zirkus, wurde dann gekündigt und vergessen. Der „Westen“ behauptet, Zirkus im „Osten“ sei Tierquälerei gewesen.
Der Roman lässt sich historisch, als Zeitporträt, politisch und philosophisch – wie lässt sich aus Tierperspektive denken? – lesen. Oder einfach als unterhaltsame Tiergeschichte; als Persiflage auf Migrantenliteratur.