Anne Reinecke: Leinsee

Leinsee | Anne Reinecke besprochen von Hauke Harder am 17. März 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Wieder ein Debütroman, der unaufgeregt für Aufregung sorgen kann. Es ist ein Künstler-, Liebes- und Entwicklungsroman. Zwischen zwei fast gehauchten „Jetzt“ wird eine Liebe gelebt, die vorher nicht sein durfte und dann erst durch das sich lösen neu erfunden werden darf. Additiv und subtraktiv ist der Unterschied zwischen einer Plastik und einer Skulptur. Bei einer Plastik fügt man Material zusammen und bei einer Skulptur nimmt man etwas vom Körper weg, befreit das Werk aus dem ursprünglichen Umfeld. So sind die Charaktere im Roman „Leinsee“ angelegt. Einige wachsen durch eine externe Zuführung und anderen wird etwas Eigenes weggenommen.

Die Fragen des Buches sind, was bedeutet Familie? Was ist das, was uns antreibt? Was lässt uns kreativ werden? Was lässt uns lieben? Ein Künstlerpaar, das über ihren eigenen Sohn nicht reden mag und diesen auch ins Internat gibt. Zum Schutz des Kindes oder aus Egoismus? Wie kann so ein Kind sich später selbst vertrauen, sich selbst finden und zu seiner Liebe finden?

Karl ist seinen Weg gegangen. Er ist ein Einzelgänger, der sich, noch nicht einmal dreißig Jahre jung, als Künstler einen Namen gemacht hat. Er ist der Sohn von Ada und August Stiegenhauer, dem gefragtesten Künstlerpaar der Gegenwart. Doch haben seine Eltern damals das Kind mehr oder weniger abgeschoben. Zum Kindeswohl wegen des ganzen Rummels oder weil das Glamourpaar der deutschen Kunstszene keinen Platz in ihrem Leben für ein Kind hatten? Karl war im Internat und ging dann doch auch den Weg seiner Eltern. Für ihn war es alles ein Witz. Seine Aufnahme an der Kunstschule und seinen Erfolg mit seinen vakuumierten Werken kann er selbst nicht richtig ernst nehmen. Doch feiert er Erfolge und steht gerade vor seiner ersten eigenen Ausstellung. Seine Mutter wird schwer krank und kommt mit einem Hirntumor in die Klinik. Da der Tumor irreparabel erscheint, nimmt sich August das Leben. August und Ada waren ein sehr enges und verbundenes Paar. Alles machten sie gemeinsam im Leben und nun auch im Sterben. Ada überlebt den Eingriff, hat aber fortan mit räumlicher und zeitlicher Koordination zu kämpfen. Karls bisherige Welt beginnt sich zu wandeln. Gerade durch seine Reise in das Elternhaus und das Atelier des Künstlerpaares am Leinsee. Seine Freundin, die ebenfalls für die Kunst, d.h. für das Schauspiel tätig ist, bleibt und organisiert Karls Ausstellung. Karl freundet sich langsam mit seiner neuen Umgebung an, die ihn mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Eine Pflegerin des Krankenhauses wird eine enge Verbündete von Karl und hilft ihm sich langsam zu lösen. Doch ist er innerlich zerrissen und stellt alles in Frage. Das, was ihm tatsächlichen Halt gibt, ist ein kleines, achtjähriges Mädchen, das ihn immer wieder besucht. Sie ist die Konstante in seinem Leben. Ihre Naivität und Unbekümmertheit reist Karl aus seinem inneren Stillstand. Als aber seine Freundin, die Pflegerin, seine Mutter und Tanja, das Mädchen, während einer Teeparty aufeinandertreffen, kommt es zu einem Bruch. Erst durch das Mädchen findet Karl wieder zurück zum Leben und findet wieder seinen eigenen Zugang zur Kunst. Die Jahre vergehen und er tritt als Künstler seinen eigenen Weg aber auch das Erbe seiner Eltern an. Das Bleibende in Karls Leben wird mal still im Hintergrund oder real immer jene Tanja sein.

Ein Roman, der voller Kunst, Trauer, Glück und Liebe ist. Kunst und Leben sind immer eng verbunden. Dieses Debüt erinnert in seiner Stimmung leicht an die tolle dänische Fernsehserie „Die Erbschaft“. Der Charakter von Karl steht immer im Vordergrund. Leider ist es gerade Tanja, von der wir als Leser mehr erfahren möchten, die aber immer ein Rätsel bleiben wird. Für uns und für Karl.

Zuerst veröffentlicht auf leseschatz.

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