Die Schiffbrüchige

Die Schiffbrüchige | Ali Zamir besprochen von Monika Dlugosch am 6. November 2017.

Bewertung: 5 Sterne

Ali Zamir: Die Schiffbrüchige, übersetzt von Thomas Brovot, Eichbornverlag 2017, 254 Seiten

Ich habe dieses Buchpaket geöffnet und in einer Nacht verschlungen. Warum ist das so? Ich liebe poetische Sprache, ungewöhnliche Metaphern, Bilder, mit Worten geschaffen, die Blicke in das Innere menschlichen Lebens gewähren und das auch noch auf sinnliche Art und Weise. Autoren, die das können, sind für mich glänzende Juwelen am Literaturhimmel und genau das kann Ali Zamir.

Der Ort der Handlung ist die Insel Anjou, die zu der Inselgruppe der Komoren gehört. Die Inselgruppe liegt zwischen Madagaskar und dem afrikanischen Kontinent. Dort wird vieles angebaut, was unsererseits gerne importiert wird wie Kakao, Vanille, Ylang Ylang, Bananen. Wir riechen also beim Lesen die Insel, wir hören ihre Geräusche, wir fühlen mit und später spüren wir ebenso das nahe Europa, das für einige Menschen dort der Inbegriff für Freiheit ist. Das Besondere an dieser Insel ist nämlich, dass sie in der Nachbarschaft der Insel Mayotte liegt, die zu Frankreich gehört und somit zur EU. Ich kann hier nicht alles erzählen, was zu den Hintergrundinformationen gehört, die man zum Teil beim Lesen des Buches unaufdringlich und sinnlich erzählt bekommt und die ich zum anderen Teil aus Neugier recherchiert habe. Das Buch ist also außerdem politische Gegenwartsliteratur, was ich ebenfalls liebe.

Ali Zamir erzählt aus der Perspektive eines jungen Mädchens und – trotzdem er ein Mann ist – gelingt ihm die Einfühlung in das Mädchen Anguille hervorragend. Anguille ist siebzehn, schwanger und auf der Flucht von Anjou nach Mayotte, also von einem arabisch-afrikanischen Staat in die EU. Der Erzählmoment ist der Todeskampf gegen das Ertrinken und gleichzeitig das Hineingleiten in eine andere Welt, das auch sinnbildlich verstanden werden kann. Angesichts der vielen Menschen, die in Booten nach Europa flüchten und manchmal auch scheitern, tot an den Strand gespült werden, fragen wir uns: Was treibt eine junge Frau hinaus auf den unberechenbaren Ozean? Noch dazu schwanger und in einem Boot, das man als Nussschale bezeichnen könnte? Beeindruckende Bilder findet man, wenn man im Internet nach Kwassa Kwassa sucht, denn so heißen die Boote, die illegal Menschen nach Mayotte transportieren.

Anguille erzählt im Todeskampf von ihrem Vater, Connaît-Tout (frei übersetzt: Alleswisser), von dem Leben in der Hauptstadt Mutsamudu und dort in dem ältesten Viertel Mjihari, wächst sie mit Blick auf den Strand und das Leben der Fischer, die unermüdlich streiten, eingesperrt in ein Haus und die Schule ab ihrem fünften Lebensjahr auf.

„.. zuerst sehe ich die Stadt Mutsamudu, in ihrem Herzen die Medina, die für mich auch eine schützende Höhle war,…, immerhin weiß ich jetzt, woher ich komme,.., ich sehe unsere Gegend Mjihari, … es sieht mich an wie ein strahlendes Kindergesicht … ich sehe das Ufer, die Pirogen, aufgereiht .. und auch die Fischer sind noch da, ja diese Helden des Meeres, geben an mit ihren Pirogen …“

So ein Fischer ist Connaît-Tout, der alles liest, was er findet, der hadert mit seinem Schulabgang in der sechsten Klasse aus Armut, der seine Töchter zu höherer Bildung anspornt und ihnen die Namen Anguille (Aal) und Crotale (Klapperschlange) gibt, um sie vor zu frühen Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht zu bewahren,

„wann immer mein Vater Connaît-Tout sich über uns ereiferte, kamen unsere Namen aufs Tapet, vor allem der von Crotale, und dann hieß es, „ich habe dich Crotale genannt, um dir das Leben zu retten, wann verstehst du das endlich, Crotale bedeutet Klapperschlange, du darfst nur Krach machen, um die Halunken zu verscheuchen…“

Aber Angouille spinnt ihre eigene Geschichte um ihre Existenz als Aal,

„er dachte ja, er wäre der Herr im Haus, .. , ich beobachtete ihn in aller Ruhe, meist heimlich, um hinter seinem Rücken diesem anderen Weg zu folgen, der sich auf eine Weise dahinschlängelt, dass einem schwindlig wird, …“ oder „und gleich am nächsten Morgen war ich bei ihm, nur wie bin ich hineingekommen in dieses Loch, wollt ihr wissen, aber das ist für einen Aal ein Klacks, man muss sich nur still und leise hineinschlängeln, sich so schlank machen, dass das gluckernde Wasser verstummt…“

Viele Metaphern stammen aus den Tiefen des Meeres, ebenso an den Stellen im Buch, wo Ali Zamir den Schleier der Gesellschaft auf der Insel Anjou zur Seite reißt, um die Menschen im gnadenlosen Licht der Sonne zu sehen

„und jetzt war ich tödlich verwundet, .., nachdem ich mich selber ins Maul eines Pottwals geworfen hatte, …, dabei gibt es so viele, die an Land herumwandeln, auch wenn sie das Meer verdient haben, ja, es gibt viele Lebewesen an Land, die trotzdem wie im Bauch des Meeres leben, .., und Masken hat es schon immer gegeben, wird es immer geben, die liegen überall herum auf dieser Welt, solange es für uns Orte gibt, die geheim sind, still, intim und wie der Bauch des Meeres,…und genauso gibt es Langusten, Garnelen, Schildkröten, Krebse, die Liste ist ellenlang, um sie aufzuzählen brauche ich bis zum Ende der Welt, als hätte sie wirklich ein Ende diese Welt, die nur darauf wartet, dass die Komödie endet,…“

Anguille und Crotale sind Zwillingsschwestern. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, die ersten fünf Jahre wuchsen sie bei ihrer Tante auf und dann nahm ihr Vater Connaît-Tout sie zu sich, um sie allein zu erziehen. Ohne eine mütterliche Begleitung werden die Mädchen flügge und entdecken die Liebe. Während Crotale als leichtes Mädchen gilt und Anguille als anständig, entscheidet sich Anguille für die Liebe und das weibliche Leben in all seinen Facetten,

„.. Vorace küsste mich zärtlich, ich küsste ihn wie von Sinnen zurück, und um auf seine Küsse besser antworten zu können, hielt ich seinen Kopf in meinen Armen wie eine grüne Kokosnuss, mit deren Wasser ich mir die Kehle schmierte, .., und noch dazu waren die Küsse von unglaublich milchiger Natur, sie machten aus der Erde einen Lichthimmel, .., bis ich es müde war und er mich überwältigte wie eine Wildkatze,…“

Aber Crotale entscheidet sich gegen die Liebe und für die Bildung, insofern stehen die Zwillingsschwestern auch allgemein für weibliche Entscheidungen in der Gesellschaft und deren Einschränkung, überhaupt für Entscheidungen offen zu sein.

Beides, die weiblichen Schicksale und die Gesellschaftskritik, geschrieben für ein einziges Mädchenleben in Anjou lassen sich meiner Meinung nach auch auf weibliches Leben in westlichen Kulturen und Gesellschaften übertragen, abgesehen von dem Hoffnungsfunken, für die die Insel Mayotte steht. Alles in allem ist „Die Schiffsbrüchige“ von Ali Zamir ein sehr lesenswertes Buch, das noch dazu von einem sehr feinsinnigen Humor durchzogen ist. Aber mehr verrate ich jetzt nicht.

http://www.monika-dlugosch.de/blog-2

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