Familie

Sechs Koffer | Maxim Biller besprochen von Janina am 23. September 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Ein schmaler Band. Da muss man sorgsam auswählen, was hinein soll, was zwingend notwendig ist, was zurück bleibt und dann muss genauso sorgsam formuliert werden, damit auch alles seinen Platz findet. Der Inhalt von sechs Koffern, von sechs Leben, von mindestens sechs möglichen Romanen, zusammengekürzt auf diesen schmalen Band. Da hat jemand das Koffer packen gelernt. Ein Familienerbe?
Der Großvater wurde vom KGB verhaftet und hingerichtet. Jemand muss ihn verraten haben. Jemand aus der Familie? Aber wer? Und warum? Gegenseitige Schuldzuweisungen, jahrzehntelanges Schweigen, keiner will die Enkel einweihen in die Familiengeheimnisse, keiner will Fragen beantworten. Das vergrößert natürlich die Neugier eher als sie einzudämmen. Der junge Maxim Biller beginnt nachzuforschen…
Was hier Wahrheit ist und was Dichtung, bleibt in einer Grauzone. Die nachprüfbaren Fakten stimmen, Namen, Wohnorte, Berufe. Aber darum geht es im Grunde auch gar nicht.
Für uns Deutsche heutzutage ist es vorbei. Wir weisen jede Zusammengehörigkeit mit den Dritten Reich zurück und können dadurch recht unbeschwert leben. Wenn wir auf dem richtigen Wege sind, stehen wir auf gegen rechts, aber seltenst befinden wir uns dabei in unmittelbarer Gefahr. Für Juden ist es nicht vorbei. War es niemals. Denn der Antisemitismus ist unausrottbar, kommt und geht in Wellen. In der Sowjetunion und den angrenzenden Partnerstaaten war er neben den unzähligen anderen Einschränkungen immer eine Bedrohung. Ist es daher ein Wunder, dass die Kinder des Großvaters in den Westen fliehen möchten? In ein ruhigeres Leben, ohne Pulverfässer, die jederzeit hoch gehen könnten? Die Frage ist nun die, welchen Preis sie dafür bereit sind zu zahlen…
Mehr zum Inhalt möchte ich gar nicht sagen. Den erschließt man sich besser selbst. Aber ein paar Überlegungen zu Kritikpunkten habe ich noch:
Eine durch und durch unsympathische Familie wäre das, stellt eine Bekannte fest. Nun ist an persönlichen Meinungen ja selten zu rütteln, aber sind die Billers unsympathisch? Sind sie nicht eher getrieben? Auf der Suche nach einem lebenswerten Leben, nach Sicherheit? Und können wir das überhaupt nachvollziehen, was es mit Menschen macht, sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende niemals völlig sicher fühlen zu dürfen?
Und ein anderer Gedanke: ist uns eventuell Tevje, der Milchmann lieber? Ein melancholischer, sanfter Mensch, immer freundlich, immer fröhlich, der sein Schicksal ergeben trägt? Haben wir es nicht so gern, wenn jemand kritisch hinterfragt, uns aus der bequemen Zone heraus drängt? Und muss ein intelligenter hinterfragender Geist nicht bisweilen vor unserer Selbstgefälligkeit und Behäbigkeit ausfällig werden? Und ist es wirklich so viel schlimmer, wenn jemand offen ausspricht, was die anderen lieber netter formuliert hinten herum anbringen?
Und letzte Frage: muss ein Schriftsteller sympathisch sein, um gute Bücher zu schreiben? Muss man eventuelle  öffentliche Tiraden kennen, um die Bücher beurteilen zu können?
Aber um zu einem Schluss zu kommen: ich finde „Sechs Koffer“ brilliant und zu recht auf der Shortlist.
Und wer sich durch obige Überlegungen auf den Schlips getreten fühlt, wird schon wissen, warum.

Weitere Rezensionen lesen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert