Jackie Thomae ist mit ihrem Roman „Brüder“ zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Es ist die Geschichte zweier Halbbrüder, die nichts zu verbinden scheint und die ohne Kenntnis voneinander auf ihren Schicksalswellen reiten. Jackie Thomae begeisterte 2015 bereits mit ihrem Debüt- und Episodenroman „Momente der Klarheit“. Sie faszinierte besonders durch Ihre Sprache und die Charakterisierungen. Ihre Figuren bekommen durch die raffinierten Handlungsstränge stets eine enorme Tiefe, so dass man die Helden des Buches ungern verlässt. Dies passierte beim Lesen der Milieustudie „Momente der Klarheit“ und jetzt erneut mit ihrem sehr umfangreichen Roman. Gerade wenn man den ersten Teil beendet hat, vermisst man Mick, den ersten Hauptprotagonisten, um sich dann in den folgenden Abschnitten erneut mit den kommenden Figuren anzufreunden. Es ist die Geschichte zweier deutscher Männer, die den gleichen Vater haben, den sie aber nicht kennen. Von ihm haben sie ihre die dunkle Hautfarbe geerbt. Es ist gleichzeitig die deutsch-deutsche Geschichte, die sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Themen beschäftigt. Welchen Einfluss nimmt das Umfeld auf die eigene Biographie? Durch die dunkle Hautfarbe werden sich die Brüder auch immer wieder den Vorurteilen und dem Rassismus stellen müssen. Ohne das Wissen voneinander stellen sie sich ähnliche Fragen, dennoch verläuft Ihr Leben gänzlich unterschiedlich.
Es beginnt mit Mick. Er geht leichtfüßig durchs Leben, aber sein Leben verläuft nicht einfach. Er mäandert biographisch und wartet immer wieder auf Glückswellen, die ihn in die richtigen Bahnen lenken. Er wächst in der DDR auf. Als er und seine Mutter nach Westberlin ziehen dürfen, wird aus ihm ein Mensch des Nachtlebens. Er wird lebendig, wenn es dunkel wird und genießt das Party- und Nachtleben. Seine Laufbahn beginnt mit einem mehr oder weniger missglückten Drogenschmuggel, aus dem er, d.h. besonders Delia, seine Freundin, doch noch Gewinne erzielen kann. Delia wird später mit dem Ersparten ein Haus kaufen, in dem sie zusammen leben werden. Er zelebriert seine Philosophie, dass Geld stets in Bewegung sein muss und gibt es großherzig aus. Er betreibt mit Freunden einen Club, vergisst aber ein Gewerbe anzumelden oder dies dem Finanzamt zu melden. Als ihm dies um die Ohren fliegt und er auch einen Unfall hat, der ihn gänzlich ausbremst, muss er sich neu orientieren. Seine selbstsüchtige Freiheit wird ihm zum Verhängnis, gerade weil er auch Delia zu oft betrogen hat.
In Folge kommt noch Idris, ihr Vater zu Wort. Er bekam als afrikanischer Student ein Stipendium in der DDR. Später kehrte er als Arzt in seine Heimat zurück. Sein anderer Sohn, Gabriel, ist Stararchitekt in London. Er hat mit seiner Frau, Fleur, einen gemeinsamen Sohn Albert, der in der Pubertät steckt. Gabriel schlittert in einen Burnout und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Er erträgt die Ziellosigkeit und das Desinteresse der jungen Gesellschaft nicht. Der Hund einer seiner Studentinnen hat sich an Gabriels Fahrrad erleichtert und er verliert in dieser fast banalen Situation gänzlich die Kontrolle.
Mick und Gabriel suchen beide für sich Heil in der Ferne und werden nach all den Jahren plötzlich von Idris, ihrem Vater kontaktiert.
Jackie Thomae ist ein großartiger Roman geglückt. Könnte man in der Literatur den Strahlensatz anwenden, wäre man fast geneigt zu sagen, dass John Irvings „Owen Meany“ der amerikanische Bezug zu „Die Blechtrommel“ von Günter Grass ist und „Brüder“ zum Beispiel der zu „Der menschliche Makel“ von Philip Roth sein könnte. Ein sehr durchlebter, durchdachter und besonderer Roman. Thomaes Art, die Geschichten zu erzählen und die Fäden zu spinnen, ist klug und macht sehr viel Freude.
Zuerst besprochen im Leseschatz von Hauke Harder (Buchhandlung Almuth Schmidt)
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