Maxim Biller „Sechs Koffer“

Sechs Koffer | Maxim Biller besprochen von Hauke Harder am 2. Dezember 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Erst war es Skepsis, dann Neugier und dann wurde es Begeisterung. Skepsis dem Autor gegenüber, dem beständig um sich selbst kreisenden Menschen, der ein großes Interesse seitens der Medien an ihm weckt. Neugier auf sein Werk, das literarisch, spielerisch und ganz authentisch geschrieben eine Familiengeschichte erzählt. Maxim Biller „Sechs Koffer“ ist die Geschichte der Familie Biller und im Zentrum ist er natürlich wieder, der Autor selbst. Aber er reduziert sich, ist ein ganz genauer, einfühlsamer Beobachter, der allen Figuren sehr viel Raum gibt. Ein dunkles Geheimnis verbirgt sich in der Familiengeschichte. Diese böse Kraft, die in der Vergangenheit wurzelt, wächst hinein in die Gegenwart und stellt nun als Text existentielle Fragen, die sich die Familie, besonders Maxim, und durch das Lesen dieses Romans auch der Leser stellen wird.

Der Roman beginnt mit einem Brecht-Zitat: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Bertold Brecht taucht immer wieder in der Handlung auf, denn Maxim soll im Laufe seiner schulischen Laufbahn ein Werk lesen und interpretieren. Er hadert mit Brecht und beginnt erst zögerlich, diesen zu verstehen. Aber das Zitat wurde auch passend gewählt, denn der Roman ist ebenfalls ein Spiegel der Geschichte und ein Bild unserer modernen Welt. Eine Welt, in der viele flüchten müssen und nicht mehr dort zuhause sind, wo ihre Heimat ist.

Die Familie Biller ist eine russisch-jüdische Familie, die auf der Flucht von Ost nach West, von Moskau, Prag nach Hamburg und Zürich geflohen ist. Maxim Biller wird 1960 in Prag geboren und lebt seit 1970 in Deutschland. Jetzt lebt und schreibt er in Berlin. Sein rückwärtiger Blick beginnt, als er ein kleiner Junge war. Etwas gibt es in der Familie, über das nur gemunkelt wird. Es hat mit dem Opa zu tun. Alle nennen ihn in den Erzählungen Tate, also respektvoll Vater. Er wurde in russischer Haft hingerichtet. Die Frage, die sich alle stellen, ist: wer hat  Schmil Grigorewitsch verraten? War es einer seiner Söhne? War es seine Schwiegertochter? War er eventuell doch an seinem Tod selbst verantwortlich, weil er geschmuggelt und dadurch vom KGB verhaftet und später zum Tode verurteilt wurde?

Der Roman beginnt mit dem Schreiben. Der Vater von Maxim sitzt gerade an einer Übersetzung, die ihm Kopfzerbrechen bereitet. Auch soll er Onkel Dima abholen, der längere Zeit als Staatsfeind inhaftiert war und gerade frei kommt. Die Handlung mäandert und wächst mit seinem Protagonisten. Er beginnt, seine Welt zu beobachten und Fragen zu stellen. Was ist damals passiert? Warum musste Tate sterben? Hat ihn jemand verraten und wenn ja, wer und warum? Warum gibt es die Fehde zwischen der Mutter Rada und der Schwägerin Natalia?

Als Jugendlicher reist Maxim zum Onkel Dima nach Zürich. Hier sucht er nach Wahrheiten und findet nebenbei Freundschaft. Er wird innerlich und körperlich immer erwachsener. In Zürich lebt noch ein weiteres Familienmitglied und auch in versteckten Unterlagen sucht Maxim weitere Antworten.

Auf wenig Raum entsteht große Gegenwartsliteratur. Ein Roman über ein Familiengeheimnis, Liebesbeziehungen und antisemitische Machenschaften. Als Leser wird man selbst Zeuge, Beobachter und zieht alle Charaktere ans Licht und möchte deren Geheimnisse lüften und fragt sich, wie würde man selbst handeln? Maxim Biller überrascht und hat mit diesem kleinen Text einen großen Roman geschrieben.

Zuerst veröffentlicht im leseschatz.

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