Staatenlos

Staatenlos | Shumona Sinha besprochen von Hauke Harder am 20. Juni 2019.

Bewertung: 5 Sterne

Immer wieder taucht er auf, der Eiffelturm. Der Eisenfachwerkturm in Paris wurde als Portal und Aussichtsturm für die Weltausstellung zur Erinnerung an den 100. Jahrestag der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) errichtet. Am Ende steht er im Roman gleich einem Laserschwert, das den Himmel teilt und der Vergleich zu jenem Turm in Babel, dessen Bau durch Sprachverwirrung zum Stillstand gebracht wurde, drängt sich auf. Denn Shumona Sinhas dritter Roman dreht sich erneut um die Fragen der Emigration und Integration. Ein Gegenwartsroman, der dem Leser durch seine ehrliche, schonungslose Sprache und Intensität den Atem zu rauben vermag. Eine Stimme, die das unfassbare und doch gegenwärtige Bild unserer Gesellschaft beleuchtet. Eine Gegenwart, in der aus Misstrauen der Hass wächst und die Angst vor Andersartigkeit beängstigende Formen annimmt. Ein Roman über  Scham, Wut, Verzweiflung und Gewalt. Die alltägliche Gewalt, die akzeptierte und jene, die bestürzt. Gewalt, die die Menschheit toleriert und selbst ausübt. Auch jene sinnlose Gewalt aus niedersten Beweggründen, die ohne sichtbare Absicht oder Plan andere Menschen verletzt.

Der Roman erzählt die Geschichte dreier indischer Frauen. Drei gänzlich unterschiedliche Menschen, die unter ganz anderen Lebensbedingungen aufwachsen und leben. Dennoch sind ihre Lebenswege miteinander verwoben. Der Anfang des Romans wirkt erst wie ein Traum. Eine Frau, die sich aus Lehm befreit und entkommen will, aber der stark verletzte Körper und ihre Seele geben auf. Dieses Bild ist der Auftakt und wird erst gegen Ende gänzlich erklärt. Es ist Mina, eine Bauerstochter, die keine schulische Ausbildung hat. Trotz Androhung der Regierung engagiert sie sich zusammen mit ihrem Cousin politisch, da die Landarbeiter das Land für den Bau einer Automobilfabrik abgegeben sollen. Sie wird in das politische Machtspiel hineingezogen und auch bis zum Ende für die jeweiligen politischen Kämpfe missbraucht. Sam, ihr Cousin, hat sie geschwängert, wird sie aber niemals heiraten. Sie wird entwurzelt und ist somit der Willkür und Unterdrückung der Männerwelt ausgesetzt. Sie steht in Kontakt zu Marie, die im Roman eher die kleinste Rolle einnimmt. Letztere ist es aber, die die Geschichten der drei Frauen verbindet. Sie wurde ebenfalls in Bengalen geboren, aber dann von französischen Eltern adoptiert. Sie ist politisch sehr aktiv und reist regelmäßig nach Indien, auch auf der Suche nach ihrer Herkunft. Ihre Freundin, Esha, arbeitet als Lehrerin in Paris und wartet auf die Einbürgerung. Sie ist der Kern des ganzen Romans. Sie ist eine sehr gebildete und kunstinteressierte Frau. Esha stammt aus Kalkutta, ist dann aber wegen der romantischen Vorstellung von Paris nach Frankreich gekommen. Doch auch in der Weltstadt wächst eine Gesellschaft voller Rassismus und Sexismus und wegen ihres exotischen Erscheinungsbilds muss sich Esha viele dumme und fremdenfeindliche Bemerkungen gefallen lassen. Auch ihr Schultag fordert sie heraus, denn selbst die Kinder und Jugendlichen sind respektlos. Durch einen Angriff aus heiterem Himmel beginnt sie, ihre Vorstellung von Freiheit und der selbst gesuchten Heimat in Frage zu stellen.

Shumona Sinha schreibt stets politisch (siehe: „Kalkutta“), doch ist „Staatenlos“ ihr bisher kräftigstes Werk. Es beschwört Bilder herauf, die sich ganz zart im Kopf des Lesers einnisten, dann aber gleich der Handlung gewaltvoll aufbrechen und fassungslos machen. Man folgt den Geschehnissen im Roman fast atemlos und wird von der sehr deutlichen, aber literarischen Sprache durch den Text getragen. Die drei Frauen werden auf ihre Weise sehr lebendig, aber es bekommen nicht alle die gleiche Zuwendung der Autorin. So sind es besonders Mina und Esha, die dem Leser in Erinnerung bleiben werden. Alle drei Frauen sind entwurzelte Menschen, die nirgends richtig ankommen und angenommen werden. Sie leben in einer Welt voller Rassismus, Sexismus und Unterdrückung. Durch die Biografie der Autorin liegt der Verdacht sehr nahe, dass hier sehr viel selbst Erlebtes in das Werk eingeflossen ist. Ein Roman, der spannend, emotional und atemraubend ist. Es bleibt die Hoffnung, dass es auch solche Bücher sind, die die Wurzeln legen für eine bessere Welt.

Zuerst veröffentlicht von Hauke Harder im Leseschatz der Buchhandlung Almut Schmidt.

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