Die Geschichte einer modernen Frau

Eine Liebe, in Gedanken | Kristine Bilkau besprochen von Niamh O'Connor am 16. August 2018.

Bewertung: 5 Sterne

Du musst dir keine Sorgen machen“, hatte Antonia Weber zu ihrer Tochter gesagt, als diese begann, sich vor dem Alter und vor dem Alleinsein zu fürchten. „Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben.“ (S. 241) Antonia wusste, wovon sie sprach. In den frühen 60er-Jahren hatte sie sich in Edgar verliebt, von einer gemeinsamen Zukunft mit ihm geträumt, sich sogar mit ihm verlobt. Toni hatte alles auf diese eine Karte gesetzt, und auch, nachdem die Beziehung zerbrochen war, hatte sie 50 Jahre lang nicht aufgehört, an Edgar zu denken und ihrer Tochter von der Zeit mit ihm zu erzählen. Gleichzeitig hatte sie auch nach der Trennung viele ihrer Träume gelebt, ein selbstbestimmtes Leben geführt, Reisen unternommen, zweimal geheiratet und ein Kind bekommen. Nach Antonias Tod, den Kristine Bilkau als Ausgangspunkt für ihren Roman Eine Liebe, in Gedanken wählt, findet die Tochter die alten Briefe und Fotos und beschließt, Edgar aufzusuchen. Noch vor dem Zusammentreffen mit dem Mittsiebziger trägt sie Details über die Geschichte dieser Liebe zusammen, die 1964 begann und 1967 endete.

Meine Meinung: Ich habe den Roman im Frühjahr gelesen, aber jetzt tut es mir fast leid, dass ich damit nicht bis zu den Sommerferien gewartet habe. Nicht, weil er ein seichtes Lesevergnügen für den Strand wäre, sondern damit die Bilder, die er zeichnet, genug Zeit zum Nachklingen haben und nicht sofort wieder im Alltagsstress versinken. Kristine Bilkau fängt die Stimmung einer Zeit der gesellschaftlichen Veränderungen ein. Antonia gehört der ersten Generation „moderner“ Frauen an: einer Generation, für die Berufstätigkeit eine Selbstverständlichkeit zu werden begann, die sich den einen oder anderen bescheidenen Luxus leisten konnte, die nicht mehr vollkommen in strikten Moralvorstellungen gefangen war, die Beziehungen eingehen, sich wieder trennen  und ein Kind alleine großziehen konnte, ohne sofort und automatisch im  gesellschaftlichen Abseits zu landen. Heute sind diese Frauen Großmütter und Urgroßmütter, und beim Lesen von Antonias Geschichte wurde mir bewusst, dass ihr Leben dem heutiger junger Frauen schon ähnlich war. Der Gedanke an diese heute alten Frauen hat es für mich umso reizvoller gemacht, einen Blick in Tonis Leben in den 1960er-Jahren  zu werfen: eine junge Frau wie viele andere seither, nicht immer diszipliniert, aber ambitioniert, manchmal in ihre Träume versponnen, aber doch in der Lage, das Leben zu meistern. Der Autorin geht es laut eigener Aussage um die Frage, ob wir eigentlich wirklich wissen können, wer unsere Eltern gewesen sind. Ich bin nicht sicher, ob wir  das wissen können oder überhaupt wissen sollten. In jedem Fall ist Toni aber bereit, über alles, was geschehen ist und was sie bewegt offen zu sprechen, und auch das ist schon eine sehr moderne Einstellung.

Das andere Thema des Romans ist für Kristine Bilkau die Frage, was eigentlich erfüllte Liebe ist. Für mich hat Antonias Liebe zu Edgar ein bisschen etwas von einer Romeo & Julia-Geschichte. Wir wissen von Anfang an, dass die Sache nicht gut ausgehen wird, aber trotzdem habe ich den beiden das Happy End bis zum letzten Kapitel gewünscht. Die Geschichte ist also auch sehr romantisch (und damit doch etwas für den Strand), kommt aber ohne Kitsch aus und überlässt es der Leserin, die Frage nach der erfüllten Liebe zu beantworten. Auch dafür sollte man sich Zeit nehmen, und das ruhige Tempo der Geschichte lädt dazu ein.

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