Im Deutschen warmherziger als im Original?

Newsfeed | David Rother besprochen von litnity Redaktion am 27. November 2017.

Bewertung: 4 Sterne

Vier Geschwister in New York so einprägsam beschrieben, dass ich noch einige Wochen nach der Lektüre im Central Park überlegt habe, wo wohl der Ort ist, an dem Leo von seinen Nichten Norma und Lousie beobachtet wird. Die beiden, die gerade einen Kurs im nahe gelegenen Museum schwänzen, weichen dem eigenen Onkel lieber aus, als er – offenbar unter Drogeneinfluss – ein wichtiges Gespräch mit seinen Geschwistern fast verpasst.

In diesem Gespräch möchten seine drei Geschwister endlich erfahren, ob sie eigentlich jemals das erwartete und von allen herbeigesehnte elterliche Erbe bekommen werden, ihr „Nest“.

Kurz bevor dieses wie geplant am 40. Geburtstag der jüngsten Schwester Melody fair an alle vier verteilt werden kann, braucht unerwartet Leo  alles Geld deutlich dringender als die anderen:  Aus lauter Langeweile quatscht er auf einer Hochzeitsparty eine attraktive Kellnerin an, macht ihr wilde Versprechungen und beschwatzt das junge Mädchen,  in sein Auto zu steigen. Das landet dummerweise  im nächsten Straßengraben.  – Damit ändert sich nicht nur sein eigenes Leben sondern auch das seiner drei Geschwister radikal. Und das des naiven Mitfahropfers. Ihr muss nach dem Unfall ein Bein amputiert werden. Das große Erbe wird nun eingesetzt, um nach diesem phänomenalen Fehltritt Leos wenigstens eines zu retten:  den Ruf und das gesellschaftliche Standing der Familie. Um das zu betonen: Das Geld wird nicht mitfühlend gegeben, um dem Mädchen zu helfen…

Es kauert viel Wut in der Familie, die sich nach dem – zumindest für Leo´s Geschwister vorläufigen – Verlust des Geldes an die Oberfläche müht. Die drei erwarten, dass Leo ihnen ihren Anteil zurückzahlt. Der Autorin gelingt es, uns das Abwarten und das Ringen untereinander hautnah miterleben zu lassen. Ob wir es wollen oder nicht, entwickeln wir dabei sogar Mitgefühl – mit dieser lausigen Bande. Besonders Leo ist von der Debütautorin klar gezeichnet als Angehöriger einer wohlhabenden, verwöhnten, nichtsnutzigen, geradezu überflüssigen Oberschicht. So deutlich ist diese Einordnung, das einem beim Lesen  immer wieder danach ist, ihm mal so richtig die Meinung zu sagen oder ihn zu rütteln und ihn vor eigenen Fehlern zu bewahren. Aber Leo ist zum Ergomanen erzogen. Also lebt er als einer. Er kann gar nicht anders.

Und seine Geschwister?  Was das Schicksal für jeden von ihnen vorgesehen hat, erfährt der Leser häppchenweise – und braucht dafür schon etwas Geduld. Eines aber ist früh klar, der Titel hat etwas Sarkastisches:  Das Nest der reichen New Yorker Familie hat wenig Behütendes und ist kein zuverlässiger Hort. Die Ausgeflogenen, immerhin alle über 40 Jahre alte „Kinder“,  haben sich trotzdem darauf verlassen. Ein grober Fehler: Denn auf diese Weise birgt das Nest für jeden von ihnen vor allem eines: eine bedenkliche Fallhöhe.

Das erzählt die Debütautorin sehr eindringlich – so intensiv, dass mir immer mal wieder mal nach Ausweichen zumute war. Kennt ihr das? Man möchte wissen, wie es weitergeht, aber die Atmosphäre, die Charaktere sind schwer zu ertragen… und wenn dann noch so wenig wirkliche Handlung abläuft wie im „Nest“ sind wir als Leser wirklich gefordert.

In dem Roman steckt einiges verborgen: Familienroman, Gesellschaftskritik, tatsächlich sogar etwas Entwicklungsroman. Nur die Warmherzigkeit, die der deutsche Kladdentext verspricht, will mich nicht erreichen. Bei so viel Familienzwist… kein Wunder. Oder es liegt daran, dass ich das Original gelesen habe.

Da mir der Zwist insgesamt mit zwar guten, aber zu vielen Monologen gegenüber zu wenig Handlung ausgetragen wird und mir die großen Kinder zu sehr auf die am Ende auch noch belohnte einfache Lösung hoffen, ziehe ich in der Bewertung einen Stern ab. Insgesamt ein Debüt, das sich gut lesen lässt, wenn man in der Stimmung für Familienprobleme ist.

 

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